■ Silvester
: Von Torsten Preuß - Sechste Folge

Die taz-Geschichte von einem, der trotz Einreiseverbot 1984 in Dresden Silvester feiert, erscheint bis zum 30.12.95 taz-täglich. (1. bis 5. Folge v. 20. bis 27.12.95)

Das Radio war ein alter großer Kasten, und der Nachrichtensprecher klang, als wäre er noch müde. Es war vier Uhr morgens, sie hörten „DT 64“ und tranken einen letzten Kaffee. Am Ende der Nachrichten kam der Wetterbericht. Die Vorhersage für den 8. Januar 1985 lag bei minus 30 Grad. Alle schauten ihn an. Zehn Tage war er jetzt in Dresden gewesen, und es war nicht so, daß es in der Zeit keine Probleme gegeben hätte. Allein zwei Polizeikontrollen hatte er nur überstanden, weil er sich einfach als Dresdner ausgegeben hatte, der leider seinen Personalausweis zu Hause vergessen habe. Die Volkspolizisten hatten seine Angaben überprüft, aber nicht bemerkt, daß er Name, Adresse und Geburtsdatum eines Freundes benutzt hatte, der in Dresden lebte.

Er trank den letzten Schluck Kaffee aus und atmete tief durch.

Dafür, daß er ohne besondere Schutzmaßnahmen seit zehn Tagen illegal in einem der bestüberwachtesten Staaten Europas seine alten Freunde besuchte, konnte er eigentlich zufrieden sein.

Er war hier, und sie hatten keine Ahnung.

„Minus 30 Grad“, wiederholten die anderen und versuchten, darüber Witze zu machen. Er zog die Filzsstiefel an, die ihm jemand von einer Baustelle mitgebracht hatte und durchsuchte alle seine Taschen nach DDR-Geld.

Er wollte nicht riskieren, sich auf dem Rückweg in der ČSSR durch das Ostgeld zu verraten. Er wußte nicht, was alles noch kommen würde, also versuchte er das Risiko so klein wie möglich zu halten.

Er legte es auf den Tisch und nahm sich aus dem kleinen Haufen 20 Pfennige für die Straßenbahn zum Bahnhof, 80 Pfennige für den Zug nach Schmilka und 10 Pfennige für die Fähre.

Es war 5.30 Uhr, als er über die spiegelglatte Straße zur Haltestelle der Straßenbahn lief.

Im Schein der Straßenlaterne warteten etwa zwanzig Menschen ungeduldig neben ihm.

Er trug einen Stoffbeutel mit seinen weißen Pumas unter dem Arm. Die anderen Klamotten hatte er dagelassen.

Der Zug nach Schmilka fuhr kurz nach sechs Uhr, er hatte Glück, daß er ihn doch noch erwischte. Kurz vor Bad Schandau, dem letzten Halt vor Schmilka, überraschte ihn der Schaffner im Halbschlaf. „Die Elbe ist zugefroren, der Fährbetrieb in Schmilka ist eingestellt.“ Dann lief er weiter. Er sah aus dem Fenster und überlegte, was das für ihn bedeutete.

Um nach Schmilka zu kommen, müßte er jetzt einen Bus nehmen, der von Bad Schandau aus über die letzte Brücke vor der Grenze auf die andere Seite der Elbe fährt, auf einer Straße, die direkt zum Grenzübergang führte. Er fühlte sich zum Heulen.

Der Bus würde zwanzig Pfennige kosten, aber er hatte nur noch die zehn für die Fähre. „Ein Königreich für 10 Pfennige Ost“, ging es ihm durch den Kopf.

Der Zug hielt an. Er stieg aus, setzte sich auf eine Bank auf dem Bahnsteig und dachte nach.

Ihm blieben zwei Möglichkeiten: Irgend jemanden nach einem Groschen anzuhauen und dabei an den Falschen zu geraten oder mit dem nächsten Zug zurück zu fahren, um sich von seinen Freunden neues Geld zu besorgen.

Nur – für den Fahrschein nach Dresden hatte er erst recht kein Geld.

Ihm blieb nur eine Chance: Weil es ein Doppelstockzug war, konnte er versuchen, dem Schaffner bis Dresden auszuweichen. Würde der oben entlang laufen, wäre er unten. Oder andersherum.

Sie hatten das früher oft gemacht, und er hatte es nicht verlernt.

Zwei Stunden später saß er wieder im „Hexenhaus“, und es dauerte eine Weile, bis sich alle beruhigt hatten.Fortsetzung folgt