Gott ist Amerikaner

Religiös waren die USA schon immer, ob progressiv oder reaktionär. Aber noch nie gab es ein solches Zusammentreffen von neuen christlichen Massenbewegungen und zielbewußt zur Macht strebenden Religionsideologen wie heute  ■ Von Andrea Böhm

I. Die Erleuchteten

Es scheint, als hätte eine unsichtbare Hand den Ton leise gestellt. Aus den Seminarräumen und der Cafeteria dringt kein lautes Wort. Dicke Auslegeware schluckt die Schritte von Studenten und Professoren auf den Fluren. Die Dauerberieselung mit christlicher Popmusik im hauseigenen Buchladen ist dezent heruntergeschraubt. Selbst der Gottesdienst verläuft gedämpft. Und das, obwohl ein großer Teil der Anwesenden „Pentecostals“ sind – Anhänger der Pfingstgemeinde, die in der Kirche eine ekstatische Begegnung mit Gott suchen.

Die rund 150 Gläubigen wiegen sich sanft zu Gitarrenklängen mit erhobenen Händen und geschlossenen Augen hin und her. „Möge kein schlechtes Wort, kein wertloses oder böses Geschwätz aus Eurem Munde kommen“, verliest der Liturg. „Nur Worte, die der seelischen Erneuerung anderer dienen“, antwortet insbrünstig die Menge. „Herr, vergib uns unsere Selbstgerechtigkeit, unsere Unterdrückung der Schwachen, unsere Vorurteile – seien sie sexistisch, rassistisch, gegen Alte oder Arme gerichtet!“ fährt der Liturg fort. „Herr, wir bitten Dich um Vergebung!, schallt es zurück – noch etwas inbrünstiger. Die Arme senken sich, das Wippen kommt zum Stillstand, die Augen werden geöffnet. „Zum Abschluß, liebe Freunde, umarmt und segnet Euren Nachbarn!“ 150 Paar Arme verwickeln sich ineinander bei respektvoller Distanz der Unterleiber.

Was sich ausnimmt wie eine Kombination aus Gottesdienst und Gruppentherapie mit einem Schuß political correctness ist das alltägliche Mittagsritual der Studenten und Professoren der Regent University in Virginia Beach. Gründer und Kanzler: Pat Robertson, derzeit einflußreichster Repräsentant der neuen christlichen Rechten in den USA. Direkt neben ihren Kolonialstilbauten liegt die größte christliche TV-Gesellschaft der USA, das „Christian Broadcasting Network“. Gründer und Chef: Pat Robertson. In unmittelbarer Nachbarschaft befindet sich das Hauptquartier der „Christian Coalition“, die mit ihren 1,7 Millionen Mitgliedern den konservativen Flügel der Republikaner dominiert. Gründer und Präsident: Pat Robertson.

Als Robertson seine Universität 1978 mit sieben Professoren und 77 Studenten gründete, reagierte die Hochschulwelt mit Herablassung. Heute umfaßt die Regent University sieben Fachbereiche mit über 1.400 Studenten. Verglichen mit Princeton, Berkeley oder Harvard ist das wenig, doch kaum jemand lacht mehr darüber. Die Regent- Absolventen reüssieren in konservativen think tanks, im öffentlichen Dienst, in etablierten Medien und Mitarbeiterstäben von Kongreßmitgliedern. Ihre Professoren tragen Doktortitel von Eliteuniversitäten, und sie bieten nicht nur akademische Lehre, sondern auch tatkräftige Hilfe beim Entwurf von Gesetzesvorlagen. „Hier“, sagt Robertson, „werden reife Männer und Frauen auf die Aufgabe vorbereitet, die Lehre Christi in ihren Berufen zu verbreiten.“

Angesichts solcher Ambitionen werden einige Fakultätsmitglieder nicht müde, ihre Unabhängigkeit zu betonen. „Er bezahlt mein Gehalt“, sagt Terry Lindvall, der kleine, agile Präsident der Universität. „Ansonsten weiß er, daß ich Anhänger der Demokraten bin, und redet mir nicht rein.“ Der Kommunikationswissenschaftler Lindvall möchte die Regent University als Fortsetzung einer alten Tradition verstanden wissen, in der sich Forschung, Lehre und Glaube mischen – „angefangen beim heiligen Augustinus“. Nichts stört ihn mehr, als wenn man seine Hochschule zu einer monokulturellen Ausbildungsstätte für eine christliche Elite deklariert. „Wir sind eine offene Universität und wollen Angehörige möglichst vieler Denominationen und politischer Standpunkte anziehen.“

Das stimmt – wenn man Lindvalls Definition von Offenheit annimmt. Angehörige aller Konfessionen können hier studieren – vorausgesetzt, sie sind willens, sich einer evangelikalischen Hochschulbildung zu unterwerfen. Die Bibel gilt als einziges anerkanntes religiöses Dokument, an dem sich nicht nur Individuen zu orientieren haben, sondern auch der Staat.

Unter diesem Dach ist allerdings weit mehr Platz für theologische Dispute, als viele Gegner der christlichen Rechten wahrhaben wollen. Mit ihrem Glauben an göttliche Visionen und ekstatische Gottesdienste kollidieren „Pentecostals“ mit kalvinistisch durchwirkten Evangelikalen. Die katholische Minderheit auf dem Campus muß sich immer wieder gegen alte Aversionen der Protestanten zur Wehr setzen, deren Großeltern im Papst noch den Teufel persönlich erkannt haben wollen. Anhänger des Prächiliasmus, die vom fortschreitenden, unausweichlichen Verfall der Welt hin zur Apokalypse vor Christi Wiederkehr überzeugt sind, streiten sich mit Vertretern des Postchiliasmus – die sind davon überzeugt, daß sich die Welt durch eine große Erweckungs- und Reinigungskampagne auf die Rückkehr von Gottes Sohn vorbereiten muß.

Gerade dieser Konflikt ist alles andere als irrelevant. Er bestimmt vielmehr das Verhältnis der Fundamentalisten zu Staat und Gesellschaft. „Pat Robertson neigte in seinen frühen Jahren mehr zu einer prächiliastischen Position“, schreibt der liberale Harvard- Theologe Harvey Cox mit viel Sinn für Untertreibung. „Jetzt hat er seine Meinung offenbar geändert.“ Anders als Prächiliasten glauben Postchiliasten an die Möglichkeit der Veränderung. So ist der Postchiliasmus der entscheidende Motor hinter dem politischen Aufschwung der neuen christlichen Rechten. „Es wird keinen Weltfrieden geben“, schreibt Robertson in seinem Buch „The New World Order“, „solange nicht Gottes Haus und seinen Anhängern die Herrschaft über die Welt zuerkannt worden ist. Wie soll es auch Frieden geben, solange Trunkenbolde, Kommunisten, Atheisten, New-age-Teufelsanbeter, weltliche Humanisten, unterdrückerische Diktatoren, gierige Geldverleiher, revolutionäre Attentäter, Ehebrecher und Homosexuelle regieren?“

Lauter als es Terry Lindvall, dem Universitätspräsidenten mit dem Faible für Kierkegaard und guten Wein, lieb sein kann, schlagen auch seine Studenten solche Töne an. Wer an der Regent University studiert, fühlt sich eben berufen. „Der weltliche Humanismus ist gescheitert“, sagt Dawn Carlson im geschäftsmäßigen Ton einer Gerichtsmedizinerin. Für die 26jährige, die nach eigenem Bekunden im Alter von vier Jahren ihr Leben Gott gewidmet hat, steht das fest, seit sie zuletzt in einer Notunterkunft für Obdachlose in Manhattan arbeitete. „Wer für diese Gesellschaft noch Lösungen finden will, muß in der Bibel suchen.“ Dort stehe vor allem eines geschrieben: Jeder Mensch ist für seine Handlungen vor sich selbst und Gott verantwortlich.

Mit diesem Credo studiert Dawn Carlson nun am Fachbereich für Politik und Verwaltung – offiziell „Robertson School of Government“ genannt. Nach ihrem Abschluß wird sie dem „Ruf Gottes“ in den öffentlichen Dienst oder in die Politikberatung folgen. Ihre Nachbarin Laureen Duran will mit einem Doktortitel in Kommunikationswissenschaften die „Vormachtstellung des Säkularismus in der Filmindustrie“ aufbrechen. Gary Hanvey, der Gitarrenspieler aus dem mittäglichen Gottesdienst und ehemalige Wanderprediger, will gegen das Recht der Frau auf einen Schwangerschaftsabbruch kämpfen, das er für die schlimmste Ausgeburt des „säkularen Humanismus“ hält.

Der Missionseifer der Studenten ist ebenso ernst gemeint wie ihre Überzeugung, einer bedrohten Minderheit anzugehören. Die damit verbundene Angst wird an der Regent University mit nicht gerade subtilen Mitteln geschürt. „Wir leben in einer Ära der religiösen Säuberung“, schreibt Keith Fournier, Exekutivdirektor des „American Center for Law and Justice“ in der Jura-Fakultät. Die Formulierung soll bewußt die „ethnischen Säuberungen“ in Bosnien assoziieren. Obwohl „wir Amerikaner nicht Zeuge der physischen Vernichtung von religiösen Menschen in den USA werden, so müssen wir doch mit ansehen, wie sie zensiert und erniedrigt werden und ihr Einfluß auf unsere Kultur unterdrückt wird.“

II. Die Hüter

Gary Bauer strahlt Sendungsbewußtsein und Siegesgewißheit aus. Erst gestern haben ihn wieder die Wahlkampfmanager von Bob Dole konsultiert, dem derzeit aussichtsreichsten Präsidentschaftsanwärter der Republikaner. Ihr Kandidat hatte gerade einen schweren Fauxpas begangen: Er hatte in einem TV-Interview gesagt, er sei zwar gegen Abtreibung, doch nicht mehr dafür, Schwangerschaftsabbrüche bedingungslos zu verbieten, und überhaupt sollten sich die Republikaner nicht allzu lange mit diesem Thema aufhalten.

Ralph Reed, Direktor von Pat Robertsons „Christian Coalition“, und Gary Bauer, Direktor des erzkonservativen „Family Research Council“, machten der Presse in Washington umgehend Mitteilung, daß sie „zutiefst enttäuscht“ seien. Dann warteten sie geruhsam auf den Sturm der Basis und auf den Rückruf. Der kam prompt. Wie sich der Kandidat denn am besten aus dem Schlamassel herausformulieren könne, wollten Doles Wahlkampfberater wissen. Reed und Bauer gaben Ratschläge. Schon am gleichen Nachmittag hatte sich Dole in einer Pressemitteilung korrigiert: Er sei nach wie vor für das verfassungsrechtliche Verbot von Abtreibung, plädiere aber für Ausnahmen im Fall von Vergewaltigung, Inzest und bei Gefahr für das Leben der Mutter.

Neben Reed und seiner „Christian Coalition“ gilt der 49jährige Gary Bauer als der einflußreichste Lobbyist der christlichen Rechten in Washington. Als sich vor wenigen Monaten zahlreiche prominente Republikaner Colin Powell als Spitzenkandidaten herbeiwünschten, faxte Bauer sein Veto an 5.000 Führer christlicher Organisationen und an 1.000 Journalisten. Powell, der sich für ein Minimum an Waffenkontrolle, das Recht auf Abtreibung und die Beibehaltung einiger Anti-Diskriminierungs-Programme ausgesprochen hatte, repräsentiert genau jenen Typus des Republikaners, den Bauer radikal bekämpft: Fiskalisch konservativ, in sozialen Fragen liberal. Powell entschied sich gegen eine Kandidatur – nicht zuletzt aufgrund des offensichtlichen Widerstandes der christlichen Rechten.

Bauers Aufstieg beruht auf dem typischen Erfolgsrezept so vieler Leitfiguren der christlichen Rechten: Massenwurfsendungen zum Einsammeln von Spenden, Zugang zu Radio-Talk-Shows, beste Verbindungen zu Stiftungen und think tanks und ein zweites Standbein außerhalb der Hauptstadt. Der „Family Research Council“ – bis vor wenigen Jahren nicht viel mehr als eine Briefkastenadresse – wuchs im Schulterschluß mit der Organisation „Focus on the Family“ im US-Bundesstaat Colorado heran, die Erziehungsratschläge für junge Eltern mit konservativen Werten verknüpft: gegen vorehelichen Sex, gegen Homosexualität, gegen liberale Scheidungsgesetze, gegen Sozialhilfe an ledige, minderjährige Mütter. Heute hat Bauers „Family Research Council“ 250.000 Mitglieder und verzeichnet Spendeneinnahmen von jährlich 10 Millionen Dollar. Sein Wort erreicht nicht nur das Ohr der Kongreßabgeordneten, sondern auch das von fünf Millionen Zuhörern einer Radio- Talk-Show, die „Focus on the Family“ täglich ausstrahlt.

Bauers ganz persönliches Erfolgsgeheimnis ist das, was die New York Times als „seltene Ausprägung von Bilingualismus“ bezeichnet: Er beherrscht die messianische Sprache seiner Basis ebenso gut wie den für Journalisten und Demoskopen geölten Insider-Jargon von Washington. „Wir wollen überhaupt niemandem unser Wertesystem aufzwingen“, sagt er und verzieht sein Gesicht zu einem jungenhaften Lächeln. „Aber wir möchten den Einfluß des Staates soweit wie möglich aus dem Leben der Bürger eliminieren, damit die, wenn sie wollen, konservativere Optionen wählen können.“

Zum Verbot der Abtreibung wäre ihm die Autorität des Staates allerdings ganz recht. Doch entscheidender noch ist für Bauer der Kampf um die Schulen. Wie viele andere Vertreter der christlichen Rechten will er die staatliche Finanzierung für das öffentliche Schulwesen abschaffen. Statt dessen sollen Eltern jährlich Gutscheine erhalten und sich die Schule mit dem „besten Angebot“ selbst aussuchen. Staatliche, ohnehin unterfinanzierte Schulen müßten dann ohne jeden finanziellen Rückhalt mit privaten, darunter vielen christlichen Schulen konkurrieren. Erste Modellversuche soll es bald in einigen Bundesstaaten geben. Die Washington Post meldet an diesem Tag, daß Vertreter der christlichen Rechten im Schulausschuß von Fairfax County, einem Vorstadtbezirk von Washington, möglicherweise eine Mehrheit zusammenbekommen, um die Schöpfungslehre als „gleichberechtigte Theorie“ in den Biologieunterricht einzuführen.

Gary Bauer lehnt entspannt in seinem Sessel. Er wirkt keineswegs wie einer, der Angst vor einer „religiösen Säuberung“ hat, eher wie einer, der sich in einer historisch entscheidenden Phase auf der richtigen Seite wähnt. „Wir stehen vor der vielleicht wichtigsten Entscheidung in unserer Geschichte: das Verhältnis zwischen Freiheit und Tugend neu zu bestimmen.“ Er zumindest hat keinen Zweifel, was am Ende schwerer wiegt.

III. Die Schäfchen

„Auch die Gebildeten sind abergläubisch“ schreibt der US- Historiker und Publizist Gary Wills in seinem Buch „Under God – Religion and American Politics“. „Vor allem pflegen sie den Aberglauben, daß der Aberglaube irgendwann verschwindet.“ Gut zwei Jahrzehnte nach dem Auftritt der ersten Televangelisten, so Wills, staunten Amerikas Intellektuelle immer noch über das Phänomen des fundamentalistischen Revivals, als handele es sich um eine „Sternschnuppe“ am säkularisierten Himmel der US-Gesellschaft. Dieser Vorwurf der Ignoranz zielt vor allem auf Amerikas Journalisten ab, die vermutlich eine überdurchschnittlich säkularisierte Berufsgruppe darstellen.

Rund 95 Prozent aller Amerikaner glauben laut Umfragen an Gott. 65 Prozent sind von der Existenz des Teufels überzeugt, 72 Prozent glauben an Engel. 53 Prozent geben an, schon einmal eine direkte Begegnung mit Gott gehabt zu haben, 37 Prozent behaupten, Zeuge eines Wunders gewesen zu sein. 44 Prozent nehmen nach eigenen Angaben mindestens einmal in der Woche an einem Gottesdienst teil, im Gegensatz zu 14 Prozent der Befragten in Großbritannien, 10 Prozent in Frankreich und 18 Prozent in Deutschland (alte Bundesländer) – das ergab eine Erhebung des „Inter-University Consortium for Political and Social Research“, die zwischen 1990 und 1993 durchgeführt wurde. Lediglich in den 60er Jahren erfuhr der religiöse Trend einen leichten Abwärtsknick, was die Zeitschrift Time 1966 zu einem mittlerweile historischen Titelblatt mit der Überschrift „Ist Gott tot?“ veranlaßte.

Die Beantwortung dieser Frage ist nach wie vor Glaubenssache, doch eine wachsende Zahl von Amerikanern, auch und gerade Baby Boomer wie Bill Clinton und Al Gore, sagt: Gott lebt. Glaubensbekenntnisse abzulegen, ist auch für amerikanische Helden wieder selbstverständlich. Scott O'Grady, der von Serben über Bosnien abgeschossene US-Pilot, dankte nach seiner Rettung zuallererst dem Herrgott und „seiner Liebe für mich“. Sportstars wie David Robinson vom Basketballteam der „San Antonio Spurs“ sind bekennende Christen und predigen in ihrer Freizeit in Oberschulen sexuelle Abstinenz und moralische Eigenverantwortung. Footballteams beten vor dem Anpfiff in der Kabine. Heath Schuler, Quarterback der „Washington Redskins“, beschreibt als ergreifendstes Erlebnis seines Lebens ein christliches Revival-Treffen, bei dem er „einem achtjährigen Jungen den Weg zu Gott gezeigt“ habe. Kämen solche Worte aus dem Munde von Lothar Matthäus, würde man übermäßiges Kopfballtraining vermuten. In den USA galten und gelten sie als völlig normal. „In God We Trust“ steht auf jeder Dollarnote. Und für die überwältigende Mehrheit der Amerikaner wäre ein Atheist als Präsident schlicht undenkbar.

Mitte des letzten Jahrhunderts schob Karl Marx diesen Säkularisierungs-Rückstand noch auf das fieberhafte Tempo, mit dem sich die junge Nation auf den Aufbau des Kapitalismus stürzte. Doch das Opium des Volkes, da war er sich sicher, werde auch in der neuen Welt bald verraucht sein. Marx irrte, zumal Religiösität in den USA häufig auch die treibende Kraft progressiver Strömungen war – von der Opposition zur Sklaverei bis zu Martin Luther Kings Bürgerrechtsbewegung.

Das gegenwärtige Revival des Fundamentalismus paßt perfekt in die neue religiös-konservative Welle in den USA – wobei man sich allerdings davor hüten sollte, jeden religiösen Konservativen als Fundamentalisten zu bezeichnen. Zulauf verzeichnen vor allem konservative Denominationen – Lutheraner, Baptisten, auch Katholiken, die ihre Zahl nicht zuletzt aufgrund der Einwanderung aus Lateinamerika und Asien seit 1950 verdoppelt haben. Traditionell liberalere Kirchen wie Methodisten, Presbyterianer und Episkopalen haben Mitglieder verloren.

Darüber hinaus fällt vor allem der Trend zur Masse auf. „Megakirchen“, die für ihre Gottesdienste gigantische Sporthallen anheuern und dort eine Multimedia- Show mit Orchestern, Chören, Tänzern und Video anbieten, werden vor allem in den Vorstädten des „Bible Belts“ und der südwestlichen Bundesstaaten immer beliebter. In den Sportstadien des Landes finden seit 1991 die Veranstaltungen der christlichen Männerbewegung der „Promise Keepers“ statt, bei denen Zehntausende Männer – vorwiegend Weiße – geloben, sich zu „sexueller Reinheit“ und ihrer Verantwortung als Familienvorstand zu verpflichten und Bündnisse mit anderen christlichen Männern zu bilden.

Für 1995 hatten die „Promise Keepers“ einen „Marsch einer Million Männer“ auf Washington geplant. Doch da kam ihnen Louis Farrakhan, schwarzer Führer der „Nation of Islam“ mit einem eigenen, schwarzen „Million Man March“ zuvor. Die Massenversammlung der „Promise Keepers“ soll nun 1996 in der Hauptstadt stattfinden. Von „religiöser Säuberung“ keine Spur.

IV. Die Gefallenen

Dem Schreckgespenst eines „weltlichen Humanisten“ am nächsten kommt wohl ein schlaksiger Mittvierziger in einem Bürogebäude in New York. Steve Shapiro leitet die Rechtsabteilung der „American Civil Liberties Union“ (ACLU) – Amerikas größte Bürgerrechtsvereinigung. Sie vertritt Schwule und Lesben, die Diskriminierung geltend machen; sie verteidigt das Recht auf Schwangerschaftsabbruch, mobilisiert gegen die Todesstrafe und pocht auf die kompromißlose Trennung von Staat und Kirche. „Eigentlich“, sagt Shapiro listig, „sind wir ja die fundamental konservative Organisation. Wir verteidigen die traditionellen Werte dieser Gesellschaft.“

Ihre ersten Bürgerrechtssporen verdiente sich die ACLU mit der Verteidigung von Kriegsdienstverweigerern im Ersten Weltkrieg. Schlagzeilen machte sie 1925, als ihr Staranwalt Clarence Darrow den damals einflußreichsten Fundamentalisten und ehemaligen Außenminister unter Woodrow Wilson, William Jennings Bryan, düpierte. Bryan zeichnete für ein Gesetz mitverantwortlich, daß die Lehre von Darwins Evolutionstheorie in den Schulen des Staates Tennessee untersagte. Darrow gewann den Prozeß für einen Lehrer, der gegen dieses Gesetz verstoßen hatte, und gab Bryan und seine wortwörtliche Auslegung der Schöpfungsgeschichte als einzig gültige Wahrheit der Lächerlichkeit preis.

Seitdem sind die ACLU und die christliche Rechte ewige Feinde. Ironischerweise war Bryan ein durchweg progressiver Politiker, der heute sämtliche Mitglieder der Clinton-Administration links überholen würde. Er beharrte auf der Schöpfungslehre, weil er im Darwinismus den Beginn einer Ideologie des „Survival of the Fittest“ sah, später unter dem Begriff „Sozialdarwinismus“ bekannt. Heute tauchen Sozialdarwinisten und religiöse Fundamentalisten meist in Personalunion auf.

Die Einführung des Schulgebets sowie der Schöpfungslehre in den Biologieunterricht sind auch heute die zentralen Konflikte, die Shapiro vor Gericht ausficht. Auf der anderen Seite begegnet er immer häufiger den Juristen der „Regent University“. Er ist überzeugt, daß die Trennung von Staat und Kirche nicht aufzuheben ist, aber die Gefahr der christlichen Rechten will er keineswegs unterschätzen. „Wir leben in einer Phase ökonomischer und sozialer Entwurzelung“, sagt er. „Und das hat die christliche Rechte ganz geschickt in eine moralische Krise umdefiniert.“

Inzwischen wächst die Zahl derer, die den politischen Vormarsch des Fundamentalismus als Krise ansehen. Daß die meisten unter ihnen selbst bekennende Christen sind, kann nur jene überraschen, die nach den Worten von Gary Wills jede religiöse Bewegung in den USA „wie eine Sternschnuppe“ bestaunen. Als die „Christian Coalition“ nach den letzten Kongreßwahlen den Schulterschluß mit der neuen republikanischen Mehrheit im Kongreß demonstrierte und Newt Gingrichs „Vertrag mit Amerika“ unterstützte, protestierten Führer von über 80 christlichen, islamischen und jüdischen Gruppen gemeinsam gegen diese „gefährliche Liaison von Religion und politischer Macht“. In Washington mobilisiert die „Religious Coalition for Reproductive Choice“, ein Zusammenschluß von 38 katholischen, protestantischen und jüdischen Denominationen und Gruppen, für ein liberales Abtreibungsrecht und offene Sexualaufklärung für Teenager. In Texas haben sich Priester, Theologen, Kommunalpolitiker und einfache Bürger zur „Texas Freedom Alliance“ zusammengeschlossen. Ihr Motto: „Die christliche Rechte ist weder christlich, noch hat sie recht“. Mit der Parole „Take Back Our Schools“ wurden daraufhin bereits in dreizehn Schulbezirken von der „Christian Coalition“ unterstützte Kandidaten abgewählt.

„Religion“, so ein Houstoner Methodistenpfarrer, „wird zu einem massiven gesellschaftlichen Problem, wenn religiöse Menschen intolerant werden. Dann tun sie die miesesten, verrücktesten und verfassungswidrigsten Sachen und bilden sich ein, sie handeln in Gottes Auftrag.“ Er schüttelt halb bekümmert, halb verärgert den Kopf. Offenbar findet er so etwas nicht nur unchristlich, sondern auch zutiefst unamerikanisch.