■ SILVESTER
: Von Torsten Preuß Siebte Folge

Die taz-Geschichte von einem, der trotz Einreiseverbot 1984 in Dresden Silvester feiert, erscheint bis zum 30.12.95 taz-täglich. (Erste bis sechste Folge vom 20. bis 28.12.95)

Er wartete in der Küche und mußte an den Fährmann denken und an dessen Worte vom „Chemiescheiß“, der verhindern würde, daß die Elbe zufrieren könnte und daran, daß eben nichts sicher war. Aus dem Radio kamen die 16-Uhr-Nachrichten. Der Wetterbericht wurde nicht besser.

Die Tür ging auf. Sie kamen zurück. Es hatte geklappt.

Sie hatten versprochen ein Auto aufzutreiben, mit dem sie ihn am Abend direkt nach Schmilka fahren wollten.

Das war nicht einfach, denn keiner von ihnen hatte eines und Taxifahrer weigerten sich, die knapp 50 Kilometer zu fahren. Aber einer kannte einen, der einen kannte, und jetzt war alles klar. Zu sechst fuhren sie in einem Skoda 100 im Schneckentempo auf der nicht gestreuten Straße bis auf den Parkplatz in der Nähe des Grenzübergangs Schmilka.

Die Fahrt dauerte fast zwei Stunden, die Verabschiedung nicht ganz so lange.

Er hatte den Weg nicht vergessen. Trotzdem war er froh, daß er wieder der Aschenspur folgen konnte.

An derselben Stelle, an der er vor zehn Tagen aus dem Wald getreten war, ging er wieder hinein. Seine Gefühle waren die gleichen, aber die Angst nahm mit jedem gelaufenen Meter ab.

Der Schritt über die Staatsgrenze der DDR war diesmal der einfachste. Als er auf tschechoslowakischer Seite aus dem Wald trat, war es kurz vor zwanzig Uhr, Hřensko sah aus wie erfroren.

Er trat in die einzige Kneipe, die geöffnet hatte. Zwei alte Männer blickten ihn an.

Er fragte, wann der nächste Bus nach Děčin fahren würde. Die Zeit wurde langsam knapp, sein Visum lief in 28 Stunden ab.

Die Männer konnten kein Deutsch und riefen den Kellner.

Er hieß Honza und schüttelte den Kopf. „Zu kalt“, sagte er. Der Verkehr war eingestellt, die Straßen zugefroren.

Der erste Bus würde am nächsten Morgen fahren, gegen 4 Uhr.

Dafür, daß er zu dieser Zeit überhaupt in diesem Ort war, gab es eigentlich keine Erklärung. Aber Honza stellte keine Fragen.

Zwanzig Minuten später sah er ihm dabei zu, wie er langsam seinen Laden dicht machte.

Als sie beide auf der Straße standen, ahnte er, was kommen würde. Honza hatte sich beim Bier als wirklich nett erwiesen, und deshalb hatte er nicht allzugroße Bedenken, als er ihn jetzt fragte, ob er die Nacht bei ihm verbringen wollte.

Er sagte ja, und weil er nichts anderes hatte, ließ er ihm am nächsten Morgen als Dankeschön die Filzstiefel in der Küche stehen.

Die Pumas waren zwar kälter, aber sie fielen nicht so sehr auf, als er kurz nach 4 Uhr mit fünf anderen schlaftrunkenen Fahrgästen in den Schichtbus nach Děčin stieg.

Die Kälte hatte alle Fahrpläne über den Haufen geworfen.

Ihm blieb keine andere Wahl.

Kurz nach acht Uhr verließ er Děčin in einem Bummelzug.

Als er am späten Nachmittag in Prag vor dem Bahnhof stand, hatte er nur noch wenig Zeit – und eine Menge Probleme.

Das größte war ihm erst eingefallen, als er sich auf der endlosen Fahrt eine Taktik für die nächsten Stunden bis zur Ausreise aus der ČSSR zurechtgelegt hatte.

Für Touristen aus dem Westen galt ein Zwangsumtausch. 30 D- Mark pro Tag. Das hatte er ganz vergessen.

Er hetzte durch die schmalen Gassen der Prager Innenstadt in Richtung Wenzelsplatz. Dort kannte er eine Wechselstelle.

Er tauschte für die Tage zwischen seiner Einreise und seiner Ausreise.

Die Frau wunderte sich noch, als er schon wieder auf dem Rückweg zum Bahnhof war.

Er kaufte sich eine Fahrkarte für den nächsten Zug nach Nürnberg.

Dann ging er in die Bahnhofsgaststätte in den ersten Stock.

Er hatte noch drei Stunden Zeit. Langsam mußte er zugeben, daß es zwei dicke Merkwürdigkeiten gab, die er den Grenzorganen der ČSSR bei der Ausreise todsicher erklären müßte: Einmal, warum er nur für eine Nacht eine Anmeldung in seinen Papieren hatte, und zum zweiten, warum er das Geld erst am letzten Tag seines Aufenthaltes umgetauscht hatte.

Nachdem er seinen Platz im Internationalen Zug Prag – Nürnberg – Paris gefunden hatte, sah er den Lichtern der Moldaubrücken dabei zu, wie sie mit zunehmender Geschwindigkeit immer kleiner wurden.

Es waren nicht zwei, sondern drei Merkwürdigkeiten: Er hatte nicht einmal Gepäck.

Fortsetzung folgt