Das wahre Können ist Askese

„Augen wie ein Frosch“: Auch bei der Vierschanzentournee, die heute mit dem Springen in Oberstdorf beginnt, haben die magersten Skispringer die besten Chancen auf den weiten Flug  ■ Von Holger Gertz

Berlin (taz) – Sein wattiertes Trainingskleid läßt den Skispringer robuster aussehen, als er ist; erst wenn er es abstreift, kommt darunter eine spindeldürre Gestalt hervor, oft ein Hungerkünstler, manchmal ein kranker Mensch. „Jede Sportart selektioniert ihren Athletentyp“, sagt Walter Hofer, Weltcup-Koordinator des Internationalen Ski-Verbands (FIS), „im Skispringen sind das die leichteren und kleineren Athleten, wie zum Beispiel Jens Weißflog.“ Je leichter einer ist, desto weiter trägt es ihn ins Tal hinab, deshalb ist das wahre Können des Skispringers die Askese.

Der Österreicher Christian Moser (23) gewann 1994 mit der Mannschaft in Lillehammer die olympische Bronzemedaille. Bei der heute in Oberstdorf beginnenden Vierschanzentournee wird er fehlen, weil er sich zwischenzeitlich halbtot gehungert hat. „Er hat es mit der Trennkost versucht“, sagt Andreas Felder, sein Trainer, „aber davon hat er auch nur die Hälfte gegessen.“ Moser, 181 Zentimeter von der Sohle bis zum Haupt, magerte auf 58 Kilogramm ab; eine Jammergestalt aus Haut und Knochen. Martin Trunz, Kollege aus der Schweiz, sagt, er sei „erschrocken, als ich Christian sah. Der hatte Augen wie ein Frosch.“

Jeder macht die Ausgemergelten bevorzugt in den Reihen der Konkurrenz aus, dabei gibt es sie in jedem Team, weil nicht jeder zum Schanzenmann geboren ist wie der Deutsche Weißflog, dreimal Sieger der Vierschanzentournee. Weißflog ist 1,70 Meter groß, wiegt 53 Kilo, und sein Körper verbrennt die Kalorien selbst in trainingsarmer Zeit derart, daß er „auch mal zwei Tafeln Schokolade essen kann, ohne zuzunehmen. Ich muß auf mein Gewicht nicht aufpassen.“ Kollege Sven Hannwald schon. Im Sommer erkannte die medizinische Abteilung des Deutschen Ski-Verbands gerade noch rechtzeitig die sich entwickelnde Magersucht des Kandidaten und päppelte ihn behutsam wieder auf, wobei sich Hannwald kooperativ zeigte: „Ich bin ja rumgelaufen wie eine Schlaftablette.“ Müde wird der magere Athlet und anfällig für Infekte dazu, wo er doch eh schon nichts zuzusetzen hat. Der normale Mensch hat einen Körperfettanteil von 15 bis 20 Prozent, ein Langstreckenläufer um die 12, ein Springer unter 10. Bei dem harten Training und der Kälte kommt für den Untergewichtigen irgendwann der Zusammenbruch.

Was ist zu tun, ewig kontrollieren mit der Waage? Herrje, sagt Andreas Felder, „als Trainer kann man versuchen, mit die Leit' zu reden, aber im Grunde hast du keinen Einfluß“. Grundsätzlich bewege sich seine Sportart in „eine traurige Richtung, die Leute werden immer jünger, immer dünner“.

Abhilfe schaffen kann nur eine Änderung des Reglements. Gerade wird über die Skilängen diskutiert. Bislang gilt die Formel Körpergröße plus 80 Zentimeter gleich Skilänge. Ein 170 Zentimeter langer Springer darf also mit einem 250 Zentimeter langen Ski springen. Längere Bretter haben eine größere Tragfläche, allerdings hat sich erwiesen, daß große Springer diese 80 Zentimeter aus aerodynamischen Gründen nicht optimal nutzen können. Vielleicht könnte man auch mit der Kleidung was machen, etwa den Leichtgewichten beschwerende Polster in die Montur nähen, um den von Natur Schwereren wieder bessere Chancen zu verschaffen. Allerdings: Die Hersteller des Materials mußten sich in den letzten Jahren schon auf diverse Neuerungen einstellen, weiß der Deutsche Dieter Thoma (179 cm, 63 kg): „Skispringen ist sowieso ein Sport, wo die Industrie draufzahlt. Wenn die jedes Jahr neue Ski produzieren sollen, können sich das die Skifirmen bald nicht mehr leisten. Und dann sieht es schlecht aus.“

Umstritten auch, ab welchem Alter die jungen Hüpfer im Weltcup mitmachen sollen – ab 18, ab 17? Und wenn einer mit 16 schon technisch ausgereift ist und todesmutig sowieso? „Ich denke, man sollte solchen Leuten das nicht verbieten“, sagt Weißflog, den die Diskussion aber nur am Rande berührt mit seinen 31 Jahren, den Karriereabend im Blick: „Nach dieser Saison ist endgültig Schluß.“ Das malträtierte Knie hält der Belastung nicht länger stand.

Wenn der Weltverband sich zu verbindlichen Vorgaben nicht durchringen kann, müßten die Trainer ihr Verantwortungsgefühl sprechen lassen. Aber da steht nicht viel zu erwarten, das ist beim Skisprung nicht anders als im Turnen oder Eiskunstlauf: Üblicherweise wird das Idealgewicht beim Mann nach der Faustregel berechnet: Körpergröße minus hundert minus 10 Prozent. Das Idealgewicht beim von der Schanze springenden Manne rechnet der Schweizer Nationaltrainer Joachim Winterlich im Züricher Fachblatt Sport ganz anders vor: „Körpergröße minus 100 und dann minus 20 Kilo.“ Ein Springer von 1,70 Meter darf demnach gerade 50 Kilo haben, klares Untergewicht, was Sportlehrer Winterlich da einfordert, und zwar mit weitenorientierter Begründung: „Ein Kilo mehr auf der Waage bedeutet beim Springen einen Meter weniger.“ Es ist, wie es ist, und das ist das Problem: Solange die Leistung besser wird, fehlt die Einsicht.