„Das Feuer ist eröffnet“

■ Silvester-Chaos auf dem Marktplatz. Kinder als Zielscheibe - und weit und breit keine Polizei

Noch ist es ruhig auf dem Markplatz. Etwa 50 Schaulustige tummeln sich am Silvesterabend gegen elf Uhr zwischen Rathaus und Schütting. Ab und an explodiert ein Böller mit lautem Knall auf dem Kopfsteinpflaster. Vereinzelt zischt eine Rakete gen Himmel und sprenkelt ihr feuriges Muster ins schwarze Firmament – verfolgt von den Blicken der Schaulustigen, die versuchen, sich die eisige Kälte mit Glühwein vom Leibe zu halten. Noch deutet nichts auf das Chaos hin, das sich in den nächsten fünfzig Minuten abspielen wird.

Immer mehr Menschen strömen auf den Markplatz. In prall gefüllten Plastiktüten schleppen sie Feuerwerkskörper und Sektflaschen heran. Kawuuuuum. Plötzlich zerreißt ein ohrenbetäubender Knall den Frieden. Ein Kanonenschlag ist an der Fensterfront der Bürgerschaft explodiert. Die Scheibe vibriert ein paar Sekunken und ... bleibt heil. Ein etwa Zwölfjähriger peilt mit dem Daumen das Dach des Rathauses an. Sorgfältig sucht er einen Platz für seine leere Sektflasche aus und steckt ihr eine Rakete in den Hals. Ein kurzer Blick aufs Dach. Dann hält er sein Feuerzeug an die Zündschnur. Die Rakete schießt aufs Dach und zerschellt mit Getöse im Funkenhagel. „Jipieee“, schreit der Knirps. „Das Feuer ist eröffnet.“

Unzählige Menschen säumen jetzt den Marktplatz. Dicht gedrängt stehen sie an den Häuserwänden und feuern ihre Knallkörper in die Mitte des Platzes ab. Das alte Jahr hat nur noch eine halbe Stunde. Feurige Kreisel tanzen in allen Farben über das Herzstück der Stadt. Zwei bengalische Feuerbälle tauchen den Platz minutenlang in rotes Licht. China-Böller und Kanonenschläge krachen. Der Geruch von Schwefel beißt in der Nase. Der Marktplatz ist verqualmt und mit Papierfetzen übersät. Ein Mann rennt mit hochgezogener Kapuze quer über den Marktplatz. „Der ist ja lebensmüde“, quietscht eine Frau – da explodieren auch schon die ersten Böller dicht hinter seinen Fersen. Eine Rakete zischt quer über den Platz. Sie verfehlt die Menschenmenge auf der anderen Seite nur um wenige Meter. Irgendwo heult ein Kind. Ein etwa 16jähriger steht breitbeinig vor dem Haus der Bürgerschaft. Mit beiden Händen hält er eine eine Schreckschuß-Pistole und zielt auf die Menge vor dem Becks-Haus. Ein Schuß fällt. „Yeah“, stößt der Junge hervor und lädt nach. Ein China-Böller explodiert vor den Füßen eines kleines Mädchens. Das Kind schreit. Der Vater reißt das Mädchen hoch. Es scheint unverletzt zu sein. Ein paar Jugendliche schmeißen ihren Opfern China-Böller zwischen die Beine. Mit spitzen Schreien springen die Gepeinigten zur Seite. Höhnisches Gelächter. Plötzlich schlägt sich ein Mann beide Hände vors Gesicht. „Was hast Du“, schreit seine Freundin mit angstverzerrtem Gesicht. Der Mann antwortet nicht. „Laß' uns abhauen, bevor die Bullen kommen“, ruft einer der Jungen seinen Kumpanen zu. „Die sind doch an der Sielwall-Kreuzung“, gibt ein anderer gelassen zurück. Der Mann nimmt die Hände vom Gesicht. Er hatte nur Qualm in die Augen bekommen. Mit schnellen Schritten verläßt das Paar den Platz.

Es schlägt zwölf. Die Turmglocken gehen im Getöse des Feuerwerks unter. Ein Mann hebt sein Glas und stellt einen Böller hinein. „Solchen Leuten müßte mal ein Splitter ins Auge ...“, schimpft eine Frau. Kawummm. Ein ohrenbetäubendes Getöse zerreißt ihr das Wort im Mund. Dicke Qualmwolken steigen aus einem Papierkorb. Die Umstehenden sind minutenlang taub. Mitten auf dem Marktplatz dreht sich ein Pärchen zum Walzer. Ein junger Mann erhebt seinen Pappbecher und lächelt freundlich: „Ein frohes neues Jahr, wünsche ich Ihnen.“ kes