Der Wind treibt das alte Leben fort

Im Norden von Mauretanien, wo die Sahara am trockensten ist, verkümmert die einst reiche Nomadengesellschaft: Die Männer ziehen weg, die Frauen kämpfen gegen den Vormarsch der Wüste  ■ Aus der Sahara Bettina Rühl

Der weiße Sand der Sahara flimmert in der Sonne. Der Wind streicht über die wüste Weite und nimmt den Sand mit. Die kleinen Körnchen setzen sich in die Kleider, die Zähne, die Augen. In der von Hitze glühenden Luft hat das Auge nichts, woran es sich festhalten könnte; erst am Horizont türmt sich pechschwarzes Gestein mehrere hundert Meter hoch zu Tafelbergen auf. Hier, in dem Ort Tiberguent, gibt es keine Dattelpalme und keinen Strauch, die den Wind brechen oder den Sand aufhalten würden.

Ein Ort? Eine Handvoll Lehmhäuser, ein Brunnen und einige Nomadenzelte, weitab von der Piste in die zentralmauretanische Stadt Atar. Die Oasenstadt Atar hat der Stamm der Ouled Amany vor einigen Jahrzehnten mit Kamelen, Rindern, Ziegen und Schafen verlassen, um hier im Nichts nach Wasser zu graben und die Region bewohnbar zu machen. „Mein Mann hat einen Ort gesucht, der den Namen der Familie tragen würde“, erklärt Fatma Mint El Hacem. Sie ist die Witwe des Stammeschefs Ahmed Sidahmed Ould Kerkoub, „ein großer Mann, der im ganzen Land und im Ausland bekannt ist“.

Fatma Mint El Hacem sitzt, nein: thront im Schneidersitz in ihrem Lehmhaus und läßt den Fremden Minztee reichen und Kuskus mit gedörrtem Kamelfleisch. „Sie kommen aus einem reichen und mächtigen Land“, sagt sie zur Begrüßung, „und wir wollen Sie würdig empfangen.“

Das Familienkapital: Kamele und Ziegen

Die Jahrzehnte haben in Fatma mint El Hacems Gesicht kaum Falten hinterlassen. Nur ihr offener Blick und ihre stolze Haltung verraten, daß sie in Tiberguent die Älteste ist – und damit eine Respektsperson. Sie selbst schätzt sich auf „mindestens siebzig“. Ihren Besitz bewahrt Fatma in einer Holztruhe in der Ecke, sonst ist ihr Haus bis auf ein paar Matten und Kissen leer. „Wir leiden keinen Mangel, Gott sei gelobt“, sagt sie, „wir leben von dem, was wir haben, und wir haben nicht wenig“: Die Familie hat die Kamele und Ziegen, die Milch geben. Und für den Verkauf einzelner Tiere bekommt sie in den Städten Geld. Neben dem Brunnen stehen zwei Pick-ups, mit denen das Vieh zum Markt gefahren wird.

Das Leben in der Stadt hat Fatma mint El Hacem nie gelockt: „Wir vermeiden, uns mit den anderen zu vermischen, denn das würde unsere Traditionen sehr verändern.“ Und sie braucht auch nichts aus der Stadt: „Ich habe meine drei Söhne, die arbeiten und für alles sorgen, was ich brauche.“ Sie selbst webt Matten, um die Zelte und Häuser der Familie einzurichten. So ist es schon immer gewesen.

Die maurischen Männer, denen die Herden gehören, zogen früher selbst mit den Tieren zu den Weidegründen oder schickten ihre schwarzafrikanischen Sklaven und Sklavinnen in die Wüste. Die pflegten die Dattelpalmen in den Oasen, molken die Ziegen und fächelten ihren Herrinnen Luft zu. Die Maurinnen nähten Zelte oder webten Matten. Außerdem waren sie für die Unterhaltung zuständig: für Gedichte, Lieder und Gesänge. Heute ist kaum noch jemand da, der ihnen zuhört. Die Jugendlichen und die meisten Männer haben Tiberguent verlassen. Sie sind in Mauretaniens Hauptstadt Nouakchott oder in der Wirtschaftsmetropole Nouadhibou an der Atlantikküste.

Bisher lebte die weiße Oberschicht Mauretaniens, die arabisierten Mauren, im wüsten Norden des Landes, und die schwarzafrikanischen Stämme in der fruchtbaren Region am Ufer des Senegalflusses, der Mauretanien von seinem südlichen Nachbarn Senegal scheidet. Traditionell nahmen maurische Clans Schwarze als Sklaven – dieses Verhältnis prägt Geschichte und Gesellschaft in Mauretanien, das fast dreimal so groß ist wie Deutschland und nur knapp zwei Millionen Einwohner hat. Nun treibt die vordringende Sahara die nomadischen Mauren aus ihrem Lebensraum in die von Schwarzen bewohnten Weidegründe im Süden. Als der Staat Mauretanien 1960 gegründet wurde, waren drei von vier Einwohnern Nomaden. Heute sind es nicht einmal mehr zehn Prozent.

Der Streit um Weiderechte und die Staatszugehörigkeit der Schwarzen, deren Volksgruppen auch im südlichen Nachbarland Senegal leben, eskalierte 1989 in Massakern. Hunderte von Menschen wurden in Mauretanien und in Senegal ermordet, rund 60.000 Schwarze flohen aus Mauretanien.

„Wir müßten mehr gegen die Wanderdünen tun“

In den achtziger Jahren hatte die UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) in sieben Regionen Mauretaniens gute Erfolge mit einem Projekt zur Stabilisierung der Wanderdünen: Sieben Jahre lang wurden für insgesamt fast 19,5 Millionen Mark Bäume gepflanzt, Barrieren errichtet, Windschilde gebaut und Äcker angelegt. „Trotzdem gewinnt die Sahara weiter an Boden“, beobachtet der Agronom Henri Chaudet. „Wir müßten viel gegen die Wanderdünen tun, aber in den Oasen leben immer weniger Menschen.“

Die „Töchter der Wüste“ allerdings bleiben. Das moderne städtische Leben, in den Oasen kaum mehr als ein Mythos, gilt im islamischen Mauretanien als bedrohlich für die Ehre der Frau. Die Männer verwehren ihnen deshalb den Zugang zu den neuen Lebensformen, die sie selber genießen. Schon immer waren Nomadenfrauen über Wochen allein, wenn sich die Männer mit den Herden auf die Suche nach Weidegründen machten – jetzt aber sind die Männer noch viel mehr weg. Das Ergebnis: Einsamkeit.

„Mein Mann ist schon sehr, sehr lange fort“, sagt Zeineb mint El Bekey. Sie lebt mit ihren Kindern in der Oasenstadt Oujeft. Sie weiß, daß ihr Mann sein Geld in Nouakchott als Chauffeur bei einem Ministerium verdient. Bei welchem, weiß sie nicht. Alle paar Monate kommt er für einige Wochen nach Oujeft, sonst ist Zeineb mit den vier gemeinsamen Kindern allein und finanziell verantwortlich.

Als sie ein Mädchen war, hat sie von Reisen geträumt und davon, durch Geschäfte im Ausland Geld zu verdienen. Statt dessen verdient sie ihr Geld als Händlerin auf dem Markt von Oujeft. Der Verkauf von Tomatenmarkdosen, Sardinenbüchsen, Reis und Stoffen reicht für sie und die Kinder zum Leben.

Emina mint Mouhemed ist 16 und träumt von der Ferne: „Ich möchte gerne Ingenieurin werden und im Ausland arbeiten.“ Und heiraten? Will sie nicht. Schüchtern wendet sie ihren Blick bei dieser Antwort ab. Ihre Eltern werden sich ihrem Berufswunsch nicht in den Weg stellen, glaubt Emina. Schließlich haben sie ihr auch erlaubt, zu ihrem Onkel nach Nouadhibou zu ziehen, um dort in die weiterführende Schule zu gehen.

Der Ruf der Wirtschaftskapitale Nouadhibou am Atlantischen Ozean ist schlecht: Ausländische Fischer und Seeleute, westliche Ingenieure, japanische Unternehmer und schwarzafrikanische Händler prägen das Leben in der Hafenstadt. In den Hotelbars sind strenge Regeln des Islam außer Kraft gesetzt: Es gibt Whisky und Wein, Bier und Cocktails. Das ist landesweit eizigartig. Und es gibt auch eine Disko, in der Schwarzafrikaner und einige Ausländer einmal wöchentlich ihre Nächte verbringen.

Emina ist dort noch nie gewesen. Was sie abends in Nouadhibou macht? „Ich lerne und lese.“ Und am Wochenende? „Am Wochenende darf ich manchmal fernsehen, oder ich gehe mit meinem Onkel spazieren.“ Ihre Ferien verbringt die Schülerin in Oujeft. „Ich bin immer zufrieden, hier zu sein. Ich bin hier geboren und aufgewachsen.“

Die Schulkinder kommen nur in den Ferien

Viele der Mädchen kehren nach der Schulzeit zurück in die Oasen. Die Männer bleiben in den Städten. Dadurch ist in Orten wie Tiberguent und Oujeft eine Art Frauengesellschaft entstanden. Und die Frauen sind jetzt die letzten, die den Vormarsch des Sandes noch abwehren und die Oasen bewohnbar halten.

Seit die härtesten Dürrejahre vorbei sind, versucht die mauretanische Regierung, wenigstens einige Nomaden wieder in den Oasen anzusiedeln. Der Erfolg dieser Programme ist kaum meßbar. Der Wind treibt die sonnengelbe Sahara immer weiter: Er treibt sie Hunderte von Metern die pechschwarzen Tafelberge hinauf, die die Hügelstadt Oujeft umgeben, und jagt sie auf der anderen Seite wieder hinunter. Er treibt sie über die Dattelpalmen hinweg, die am Fuße des Hügels neben dem jetzt leeren Flußbett stehen und von denen manche bis zur Krone im Sand versunken sind.