Der Lektor kann uns mal!

Das Banale, das Alltägliche, das Normale ist plötzlich wieder das Besondere: Der Münchner speak-Verlag präsentiert unter dem Titel „Akten All“ eine 640 Seiten starke „ungefilterte Bestandsaufnahme der Gegenwartskultur“  ■ Von Wolfgang Farkas

Was Gegenwart ist, läßt sich am ehesten hinterher beurteilen. Denn Gegenwart ist unberechenbar; sie ist flüchtig, und sie ist vor allem ziemlich unübersichtlich. Oder könnte jemand beurteilen, wo wir im Moment stehen? Von welcher Lebensform, von welcher kulturellen Strömung wir gerade am meisten geprägt werden? Und überhaupt: Wer ist das, wir?

Um diesen Fragen auf die Spur zu kommen, hat der kleine Münchner speak-Verlag ein recht ungewöhnliches Buch herausgegeben. Ungewöhnlich deshalb, weil es weder ein konkretes Motto kennt noch inhaltliche Kriterien. Die einzige Vorgabe war die drucktechnische Reproduzierbarkeit bis zu dem Format DIN A4 sowie eine Umfangrichtlinie von fünf Seiten. Alles andere blieb den Leuten überlassen, die sich von dem Aufruf von speak im September 1994 angesprochen gefühlt hatten.

Darin hieß es: „Was geht 1995 jenseits von Zeitgeistgeraune und Insiderdiskussionen in den Köpfen wirklich vor sich? Alle interessierten Privatpersonen oder sozialen Gruppierungen in Europa werden die Möglichkeit haben, ihre Gedanken, Aktionen oder Ausdrucksformen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.“ Und weiter: „Wir sammeln bis zum 31. Juni 1995 alle eingehenden Manuskripte und veröffentlichen sie, ohne redaktionelle Eingriffe, unter dem Titel ,Akten All‘.“

Das Prinzip lautet also: Hier stirbt nicht der Autor, sondern der Lektor.

Den Appell verschickte speak per Post an über 200 öffentliche Institutionen in Deutschland, Frankreich, Italien, Großbritannien und Belgien. Darunter waren Schulen und Nachtclubs, Strafvollzugsanstalten und Großunternehmen, Künstlerorganisationen und Gewerkschaften – Adressaten, von denen die Verleger glaubten, daß sie für die gegenwärtige Kultur von Bedeutung sind. Dagegen wollte man auf „inhaltsleere Beiträge“, zum Beispiel von Parteien, von vornherein verzichten. Einen Anspruch auf Vollständigkeit kann es aber allein schon aus praktischen Gründen nicht geben.

Dennoch habe man sich um eine möglichst demokratische Vorgehensweise bemüht. So sei das Internet als Verbreitungsmedium ausgeschieden, sagt speak-Verleger Andreas Otteneder, denn damit hätte man nur den exklusiven Club von Computerbesitzern erreicht. So allerdings sei es wohl oft eine Sekretärin gewesen, vermutet Otteneder, in deren Gunst es lag, ob der Aufruf nun ans Schwarze Brett kommt oder nicht.

Das Ganze muß wie eine Lawine funktioniert haben: Man formt einen Schneeball, schickt ihn auf die Reise und hat dann keine Kontrolle mehr darüber. Verständlich, daß Otteneder und seine beiden Kollegen Eckhard Höffner und Hermann Schubert in den ersten Wochen nach der Verkündung ihres Vorhabens nicht besonders gut geschlafen haben. Immerhin hatten die drei ihr Wort gegeben, jeden eingesandten Beitrag auch zu drucken. „Anfangs“, sagt Otteneder, „hatten wir natürlich Angst, daß wir nur Scheiße zugeschickt bekommen.“

Die „Akten All“ wiegen vier Kilo und umfassen 640 Seiten. Die Beiträge sind alphabetisch nach den Namen der Teilnehmer geordnet. Man fühlt sich von der Form an ein Telefonbuch erinnert, bekommt über das Namedropping hinaus aber auch Inhalt. Die Beiträge wurden so abgedruckt, wie sie gekommen sind: als Faksimiles.

Auf Seite 11 beginnen die „Akten“ mit einem Text von Bertram Abel aus Berlin über einen Spaziergang in Neapel. Am Ende, auf Seite 635, steht das Gedicht „The Poet Never Learned To Write“ von Günter Zozman (Markt Schwaben). Die restlichen 196 Beiträge sind alles zugleich: poetisch und blöde, intim und verworren, ergreifend und langweilig, bizarr und traurig. Als würde sich eine ganze Generation in einem Supermarkt der Lebensgefühle feilbieten, finden sich Kurzgeschichten neben Schwarzweißfotos, Lebensläufe neben handgeschriebenen Tagebucheintragungen, Antikriegs- Collagen neben dem mathematisch geführten Beweis der „Quadratur des Kreises“, Pamphlete über die Rettung der Welt neben einer selbstausgedachten Version einer Chaostheorie, Ecstasy-Erfahrungsberichte neben Geschichten über die Liebe (allein, zu zweit, zu dritt).

Was geht mich das überhaupt an, ist die Frage, die sich beim Lesen immer wieder stellt.

Rainer (25) ist an Aids gestorben (Seite 19). Auszug aus der Rede am Friedhof: „Du hast einen Tag vor deinem Tod geglaubt, es geht weiter, du hast gehofft, du kannst noch einmal nach Brasilien reisen, du kannst noch einmal Menschen dort treffen, Brasilien erleben, und als du erkanntest, daß keine Zeit mehr bleibt, dann bist du ganz schnell auf deine Wolke gegangen, wie du gesagt hast.“

Über „Die Welt“ dichtet Richard Schremmer (Paris, Seite 488): „Apokalyptische Träume durchbrechen / den Schutzmantel meiner Naivität / mit Techno und Ecstasy ist / die Metamorphose vollzogen... Die Sonne meine einstige Freudenquelle / brennt mir wie ein Vergrößerungsglas / dunkle Flecken auf die Haut / der Schönheitschirurg der letztes Jahr / meine Nase der neuesten Mode anpaßte / schabt jetzt den Krebs von meinem / ozongegrillten Körper...“

Gerhard Knell (München) doziert auf Seite 264 ff.: „Der Künstler modernen Zuschnitts verlangt heute von seinem Publikum, in immer weniger immer mehr zu sehen... Es macht keinen Sinn, den Betrachter auf das fragwürdige Niveau des bewußten Erlebens einer Rauhfasertapete oder eines kahlen Raumes mit ein paar Teilen industriellen Abfalls herunterzusensibilisieren...“

Britta Hess (Freudenstadt) erzählt (Seite 207): „Bei einem Freund als Beifahrerin habe ich für mich das poetische Autofahren erlebt... Das ist die perfekte Verbindung von der Gegend oder Landschaft, durch die man fährt, der richtigen Musik dazu, dabei ein gutes Gespräch, entweder locker oder tiefsinnig philosophierend... Auf eine ganz andere Weise, aber ebenso wundervoll sind Champagnertrüffel... Ich schiebe einen in den Mund und lasse ihn da ganz kurz, für ein paar Sekunden liegen, bevor ich ihn dann ganz sanft zwischen Zunge und Gaumen zerdrücke. Dabei fließt leicht und weich der Inhalt seitlich ab. Das ist irgendwie fast erotisch.“

Und Thomas Steffko beschreibt in seiner Zukunftsnovelle „Fortschritt“ (Seite 553), wie alle Bürger allmählich als „reaktionär und somit potentiell gefährlich“ gelten, die sich dem Diktat der Datenautobahnen und CD-ROMs verweigern. „Die Klänge der Singles beschworen eine weithin verpönte Zeit, ja längst verloren geglaubte Zustände, als wir noch jederzeit die Muse aufbringen durften, uns mit wie seltsam auch immer beschaffenen Geräten zu vergnügen, ja selbst mit der Lektüre von Büchern über jedes noch so unbedeutende Segment des Universums.“

Weiterhin wird viel Bier getrunken, viel nachgedacht über Zukunft (zwischen Selbstmord und Selbstverwirklichung), es wird viel Blödsinn geredet, gelacht, geweint, und vor allem gefühlt.

Was geht mich das an, fragt man sich, bleibt den Dingen und Texten fremd, erkennt sich wieder.

Eine Seite der „Akten“, sagen die speak-Leute, sei gesellschaftlich relevanter als ein ganzes Buch von Martin Walser. Denn was hier zur Sprache komme, sei das „wirkliche ganz normale Leben“.

Damit liegen die jungen Verleger, die bislang zwei Romane in Low-Budget-Ausführung herausgegeben haben, gut im Trend. Hatte Hans Magnus Enzensberger in den 80ern noch verkündet, daß das Normale keinen guten Ruf und gegen das Perverse und Wahnsinnige keine Chance hätte, scheint das heute genau anders zu sein. Das Banale, das Alltägliche, das Normale ist plötzlich wieder das Besondere.

Zum Beispiel die „lebenswert“- Liste des Jugendmagazins jetzt, in der jede Woche die „Gründe, warum es sich diese Woche zu leben lohnt“, aufgelistet werden (Intuition; ungespitzte Bleistifte; nicht wissen, was los ist; fremde Leute auf der Straße grüßen; Morgenmäntel); kürzlich wurde dieser Liste sogar eine eigene Ausstellung in Form einer Tauschbörse gewidmet. Oder die Songs des Liedermachers Fanny van Dannen, die unter anderem von Küchenmessern und Tierfilmen handeln.

Auch die „Akten All“ handeln vor allem von Alltag. Ein Beitrag aus München bringt es ironisch auf den Punkt: „Ich sitze am Frühstückstisch / und zerschneide ein Brötchen / mit einem Messer / aus rostfreiem Edelstahl... Eine manchmal wunderbare Einsamkeit / Die Geschichte ist schrecklich / aber so alltäglich.“

Blättert man weiter durch die Morgen- und Abendstunden unserer unbekannten Mitmenschen, wird bald klar: Es gibt keine brauchbaren Kriterien für das, was normal oder ungewöhnlich ist; es gibt nicht einmal eine „Generation X“ – höchstens eine „Generation A – Z“.

Der Lektor kann uns mal! – so könnte das einzig denkbare Motto der „Akten“ heißen, eines Samplers, Readers, Wälzers oder Katalogs, in dem alles und nichts passiert (und der im übrigen jeden Lektor zur Verzweiflung treiben würde, allein schon wegen der Rechtschreibfehler).

Für eine „ungefilterte Momentaufnahme der Gegenwartskultur in Worten und Bildern“, wie es im Untertitel großspurig heißt, dürfte er ein paar Tonnen zu leicht sein. Aber er ist fett und „authentisch“ und gewagt genug, um zumindest ahnen zu lassen, wie sich dieses Jahrzehnt anfühlt.

Wie gut und scharf dieses Porträt der Gegenwart nun wirklich ist, läßt sich wohl erst in zehn Jahren entscheiden; dann, wenn man wissen will, was von den 90er Jahren geblieben ist; dann, wenn man kaum Dokumente von unbekannten Zeitzeugen finden wird. Wer immer wir jedenfalls waren, wer immer uns zu den Akten legen will: Wir bleiben unberechenbar, flüchtig – und ziemlich unübersichtlich.