Weiterleben in New York

■ Seit 50 Jahren existiert an der Upper East Side ein Stammtisch von Überlebenden des Holocaust. Ein Dokumentarfilm der ARD porträtiert ihn heute um 23.00 Uhr

Kein anderer Ort der Vereinigten Staaten hat sich in den dreißiger und vierziger Jahren wohl besser dazu geeignet, die Flüchtlinge aus Europa zu begrüßen, als die Stadt mit der Freiheitsstatue an der Hafeneinfahrt. Auch der Wiener Jude Leo Glückselig erinnert sich an den bewegenden Augenblick, als er den Endpunkt seiner Flucht vor den Nationalsozialisten erreicht hatte. In New York trafen er und seine Familie auf viele andere „Refugees“; das Stadtviertel, in dem sie dann lebten, nannten sie voller Optimismus „Viertes Reich“.

Und wirklich überdauerten ihre Traditionen den Größenwahnsinn des Dritten Reichs. Vor mehr als 50 Jahren gründeten der Schriftsteller Oskar Maria Graf und andere in New York einen Stammtisch von deutschsprachigen Emigranten, auch Bertolt Brecht war eine Zeitlang dabei. Die Besetzung hat sich seitdem geändert, aber noch heute treffen sich jeden Mittwochabend an der Upper East Side Überlebende des Holocaust und andere, die es schafften, vor den Nationalsozialisten zu fliehen, Österreicher und Deutsche.

„Glückselig in New York“ nennt Yoash Tatari seinen Dokumentarfilm, der von diesem Stammtisch und vor allem von jenem Leo Glückselig handelt. Daß der Titel auch ein treffendes Wortspiel ist, wird schnell deutlich: Bereits in den ersten Bildern sieht man den 82jährigen Walzer tanzen. Leo Glückselig ist die pure Lebensfreude, er behandelt die Menschen freundlich, liebt die Musik und das Zeichnen. Daß er sich die Lust am Leben nicht nehmen ließ, wertet er als seinen persönlichen Triumph über die Gewalt der Nazis, denn „sonst hätte der Hitler wirklich gesiegt“.

Leo Glückselig ist fröhlich – aber nicht unbeschwert. „Den Haß und die Wut habe ich besiegt“, sagt er, „aber der Schrecken, der kommt manchmal zurück.“ Die Erlebnisse in den Folterkellern der Gestapo, diesen Schrecken redet und zeichnet sich Leo Glückselig, so gut es eben geht, vom Leib. Und auch die Frage, die viele Überlebende immer noch peinigt, wieso ausgerechnet sie so ein „verrücktes Glück“ hatten, ist Leo Glückselig nicht fremd.

Yoash Tataris Film lebt von der eindrucksvollen Persönlichkeit Glückseligs und ist allein deswegen sehenswert. Doch ansonsten ist das Dokumentarstück ein wenig verschenkt: weniger weil der Lebensweg von Leo Glückselig nur lückenhaft geschildert wird – die Probleme, in der neuen Heimat New York Fuß zu fassen, bleiben ausgeblendet. Allein einige Schwarzweißfotos aus dem Familienalbum sollen am Ende die weiteren Stationen Glückseligs andeuten. Vor allem kommen die Erlebnisse der anderen Stammtischmitglieder zu kurz.

Da ist Hilde, die Schindlers Liste getippt hatte und vor Steven Spielbergs Film niemals darüber sprach. „Manchmal glaube ich nicht, daß ich das alles erlebt habe“, sagt sie in dem ersten Interview ihres Lebens überhaupt. Oder ihr Mann Alex, ein Kommunist, der bei der Folter ein Auge verlor und später Leibwächter Trotzkis in Mexiko war.

Besonders schade ist jedoch, daß in der knappen Zeit von 45 Minuten zuwenig Zeit für die Diskussionen innerhalb des Stammtischs bleibt. Das bedauert auch Yoash Tatari, der ursprünglich einen 90-Minuten-Film drehen wollte, damit aber am ARD-Programmschema scheiterte. So bleibt es bei Fragmenten spannender Auseinandersetzungen: Waren einige Erlebnisse im KZ „grotesk“ oder sogar nur „lächerlich“? Oder: Wie stehen die überlebenden Juden heute zum Militär?

Leo Glückselig war noch einmal losgezogen in die „Hölle“ Europa – als amerikanischer Soldat, weil er nicht tatenlos in New York sitzen wollte, während „Amis und Russen sterben“. Doch im Vietnamkrieg, sagt Glückselig, hätte er verweigert. Bevor die Debatte darüber beginnt, falls es sie denn gegeben hat, blendet Tatari aus. Dabei ist derzeit nichts so aktuell wie die Frage nach den Legitimationsgrenzen von Militäreinsätzen. Thomas Gehringer