■ Ist es zulässig, von ökologischer Nachhaltigkeit zu sprechen, aber vom Kapitalismus zu schweigen?
: Platonische Übung

Die Erde müßte wie ein tauender Eisberg Reserveplaneten kalben können, wenn alle 6,2 Milliarden Erdbewohner am Ende des Jahrtausends so opulent Stoffe und Energie verbrauchten wie die Bürger der reichen Industrieländer. 20 Prozent der Weltbevölkerung beanspruchen 80 Prozent des globalen Umweltraums. Den anderen vier Fünfteln der Weltbevölkerung bleibt nur der Rest, obwohl doch alle Menschen ein gleiches Anrecht auf den „Umweltraum“ des Planeten Erde erheben können – aber sie sind nicht in der Lage, dieses Recht auszuüben. Das westliche Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell ist offensichtlich nicht globalisierbar.

Oder doch? Der Begriff des Umweltraums ist zur regulierenden Idee der Studie „Zukunftsfähiges Deutschland“ erhoben worden, die im Auftrag von BUND und Misereor erarbeitet und kürzlich der deutschen Öffentlichkeit unterbreitet worden ist. Der Umweltraum ist jenes Stück Erde, das „die Menschen in der natürlichen Umwelt benutzen können, ohne wesentliche Charakteristika nachhaltig zu beeinträchtigen“. Das ist eine wichtige Definition; sie gibt ein eindeutiges Maß des wirtschaftlichen Handelns vor.

Daran bemessen, befinden wir uns im „Umweltraum“ auf Crash- Kurs. Wenn man die harten Fakten des übermäßigen und überhaupt nicht nachhaltigen Naturverbrauchs in Deutschland mit der Tragfähigkeit des „Umweltraums“ konfrontiert, gelangt man zu dramatischen Resultaten: Bis 2050 müßten nämlich der Energie-, Material- und Flächenverbrauch und damit auch die flüssigen, festen, gasförmigen Emissionen um 80 bis 90 Prozent auf etwa ein Zehntel des gegenwärtigen Niveaus gesenkt werden, um das Ziel der globalen Nachhaltigkeit im „deutschen Umweltraum“ nicht zu verfehlen. Kann das Tempo aber in wenigen Jahrzehnten von 100 auf 10 oder höchstens 20 verlangsamt werden, indem wir – und davon handelt der größte Teil der Studie – uns neue „Leitbilder“ des Lebens und der Arbeit geben und ansonsten doch den Tempi des Marktes gehorchen? Ist es zulässig, von ökologischer Nachhaltigkeit zu sprechen und vom Kapitalismus zu schweigen? Wenn man erst ein kapitalistisch-marktwirtschaftliches System mit Profit und Zins und allem Drum und Dran akzeptiert, gibt es überzeugende Argumente für Wachstum, Innovation, schnelle Produktzyklen, die höchst energie- und materialintensiv und daher für den „Umweltraum“ Gift und Galle sind. Der „ökonomische Sachverstand“ trägt tagtäglich Plädoyers für eine ökonomische Vernunft vor, die sich als ökologischer Wahnwitz herausstellt. Darauf verweist auch die Wuppertal-Studie, um dann aber hoffnungsfroh darzulegen, daß auf drei Wegen zumindest eine gewisse Kongruenz von Ökologie und Ökonomie erreicht werden könne: erstens durch eine „Effizienzrevolution“, zweitens durch eine Strategie der „Entmaterialisierung“, drittens durch Änderungen des Lebensstils.

„Auf mindestens fünfzig verschiedene Arten können wir das, was wir heute machen, genauso gut oder besser machen, brauchen dafür aber nur ein Viertel der Energie und Rohstoffe.“ So faßt der Direktor des Wuppertal-Instituts, Ernst-Ulrich von Weizsäcker, das Credo der „Effizienzrevolution“ zusammen. Man könne „besser leben[...], weniger verschmutzen und vergeuden, [...] Gewinne machen, [...] Märkte nutzen und die Wirtschaft entspannen, [...] das Kapital mehrfach einsetzen, [...] Gerechtigkeit und Arbeit“ schaffen. Wunderbar! Wir sollen also an die Quadratur des Kreises glauben.

Auch eine „Dematerialisierung“ der Ökonomie könne zur Entschärfung der ökologischen Krise beitragen: Viele materielle Güter dienen ja Bedürfnissen, die auch mit immateriellen Dienstleistungen zu befriedigen wären. Es muß ja nicht jeder ein Auto besitzen, um das Bedürfnis nach Mobilität ausleben zu können. Doch ist auch Skepsis angebracht. Denn der größte Teil der „Dienstleistungen“ ist alles andere als entmaterialisiert: Reiseverkehr, Transporte etc. sind mit erheblichem Stoff-, Energie- und Flächenverbrauch verbunden. Ein anderer Teil der Dienstleistungen sorgt dafür, daß ökonomische Prozesse schneller, rentabler, effizienter ablaufen. Wird die Zirkulation beschleunigt, dann in der Regel auch die Produktion.

Bleibt die Befolgung neuer „Leitbilder“ im Zuge eines ökologischen Wertewandels. Die „Leitbilder verstehen sich [...] als Gestaltungsentwürfe für Akteure in unterschiedlichen sozialen Feldern – Unternehmer, Konsumenten, öffentliche Versorger, Gesetzgeber, Städter, Bürger in ländlichen Gebieten, entwicklungspolitisch Engagierte“, kurz: „ökologiebewußte Menschen“. Mit welcher Klassen- oder Sozialstrukturanalyse die Autoren zu diesem Akteurssammelsurium gelangt sind, wird nicht mitgeteilt. ArbeiterInnen, entscheidende Akteure in einer sozialen Demokratie, kommen jedenfalls nicht vor.

Die Leitbilder mußten erstens auf ihre innere Konsistenz, zweitens auf die globale Verallgemeinerbarkeit und drittens im Hinblick auf die Realisierbarkeit innerhalb eines kapitalistischen Institutionensystems von Weltwirtschaft und Weltgesellschaft befragt werden. Hätten die Autoren den Komplex von Leitbildern einem solchen Konsistenztest unterzogen, dann hätten sie wohl feststellen müssen: Jene, die das „zukunftsfähige Deutschland“ wollen, und jene anderen, denen nichts über die Steigerung der „Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschlands“ geht, ziehen wohl kaum „am gleichen Strang“ in Richtung auf das gleiche Ziel.

Immerhin wissen wir, mit den Befunden der Studie gewappnet, besser als vorher, daß die Entwicklungsbahn, auf der wir uns bewegen, eine ökologische Sackgasse ist, an deren Ende die Katastrophe wartet. Leider sagt die Studie nicht, warum wir uns so schwertun, eine andere Bahn einzuschlagen. Es wäre gut, den Archimedischen Punkt identifizieren zu können, wo und wie am besten eine Wende eingeleitet werden könnte. Das „Kursbuch“ ins zukunftsfähige Deutschland ist unter diesem Gesichtspunkt eher eine platonische Übung. Doch immerhin beginnt auch der „lange Marsch“ in die Zukunftsfähigkeit mit einem ersten Schritt. Dazu bedarf es jenseits der Visionen, wie sie in der Studie ausgebreitet werden, gründlicher Erkundungen eines schwierigen Geländes, damit nicht nach dem ersten Schritt die „ökologiebewußten Menschen“, auf die die Studie ihre Hoffnungen setzt, frustriert eine Kehrtwende vollziehen – zurück in die ökologische Bredouille. Elmar Altvater