Eine neue Rolle für die Armee

Friedensliebe ist keine Tugend, durch die sich Guatemalas Militär ausgezeichnet hat. Der Krieg mit der Guerilla hat 150.000 Opfer gefordert. Nun wollen die Soldaten nach Drogen fahnden und Naturparks schützen  ■ Aus Guatemala-Stadt Ralf Leonhard

Es war der 5. Oktober um die Mittagszeit. Die Bewohner der Finca Xaman im guatemaltekischen Tiefland von Alta Verapaz planten gerade die Feier zum ersten Jahrestag ihrer Repatriierung aus den Flüchtlingslagern in Mexiko, als eine Patrouille von 26 Soldaten mitten durch die Siedlung marschierte. Empört über die unerwünschte Präsenz der Militärs, die nach einem Abkommen mit dem Generalstab den Dörfern fernzubleiben haben, schlossen die Bewohner einen Kreis um die Eindringlinge und forderten sie auf, die Waffen niederzulegen. Sie wollten die Mission der Vereinten Nationen für Guatemala (Minugua) rufen, damit diese den Verstoß registriert. In mindestens zwei Fällen hatten Repatriierte anderer Siedlungen ebenso gehandelt und sich durchgesetzt. Die Soldaten waren dann im Beisein von Minugua-Beobachtern ihrem Kommandanten übergeben worden.

Nicht so die Patrouille, die auf der Finca Xaman auftauchte und aus der Kaserne Rubelsanto stammte: Nach einem heftigen Wortwechsel gab der Truppführer, Leutnant Lacan Chanclan, den Schießbefehl. Zehn Menschen starben an Ort und Stelle, ein weiterer auf dem Weg ins Krankenhaus. Etwa zwanzig erlitten Schußverletzungen oder wurden von Granatsplittern getroffen.

Verteidigungsminister General Mario Enriquez übernahm zunächst die Version der Täter und erklärte der Öffentlichkeit, seine Soldaten seien von bewaffneten Dorfbewohnern provoziert worden. Die Minugua stellte später in ihrem Bericht fest, daß in Xaman außer den Soldaten niemand Waffen getragen hatte.

Und selbst wenn es eine Provokation gegeben hätte, kann keiner erklären, warum die Uniformierten Granaten werfen mußten, warum einige der Opfer in den Rücken geschossen wurden und warum auf dem Rückzug ein Soldat einen achtjährigen Jungen bis in sein Haus verfolgte und regelrecht exekutierte.

Das Massaker wurde zu einem Skandal, den die Regierung des ehemaligen Menschenrechtsombudsmanns Ramiro de León Carpio nicht einfach herunterspielen konnte. So opferte der Präsident seinen Verteidigungsminister, und die Armee setzte den Kommandanten der Militärzone Alta Verapaz ab. Gegen die beteiligten Soldaten wurde eine Untersuchung eingeleitet.

Doch die staatlichen Ermittlungsinstanzen arbeiteten zunächst weiter auf den eingefahrenen Bahnen und bereiteten eine systematische Vertuschung vor. So identifiziert das erste gerichtsmedizinische Gutachten Verletzungen von Granatsplittern als Mückenstiche. Und über die verwendeten Waffen werden überhaupt keine Aussagen gemacht – kein einziges Projektil wurde zur Untersuchung herausoperiert.

Gabriel Aguilera, ein Politologe, der sich seit Jahren mit der guatemaltekischen Armee beschäftigt, glaubt, daß der Prozeß gegen die Soldaten zu einem Wendepunkt in der Geschichte der Straflosigkeit der Militärs werden könnte, ähnlich wie in El Salvador. Dort ebnete vor ein paar Jahren das Verfahren gegen die Mörder des Rektors der Jesuitenuniversität und fünf weiterer Padres den Weg für die Friedensverträge mit der Guerilla und den Rückzug der Militärs aus dem Bereich der inneren Sicherheit. „Es wäre das erstemal, daß ein Massaker bestraft würde“, sagt Aguilera.

Wenn man den öffentlichen Erklärungen glauben darf, dann ist in Guatemala die Armee mehr als alle anderen Institutionen an einem baldigen Friedensschluß interessiert. „Pioniere des Friedens“ ist auf einem Werbeplakat der Militärs zu lesen, gleich hinter dem Kampfpanzer auf einem Betonsockel, der den Hintereingang zur Militärakademie ziert. Das massige hellgraue Bauwerk der „Escuela Politécnica“ mit seinen Zinnen und Türmchen, das der Architekt von einer spätmittelalterlichen Zwingburg kopiert haben dürfte, liegt im Zentrum in der Hauptstadt und war lange Zeit der Sitz des berüchtigten Geheimdienstes G2. Seine vor Zivilisten sorgfältig gehüteten Archive müßten über das Schicksal von Tausenden Verschwundenen Auskunft geben. Jetzt wohnen und studieren dort kahlrasierte Kadetten.

Friedensliebe ist keine Tugend, durch die sich die guatemaltekischen Militärs in der Vergangenheit besonders ausgezeichnet hätten. Menschenrechtsorganisationen sprechen von 150.000 Opfern des seit den frühen sechziger Jahren mit kurzen Unterbrechungen geführten Krieges zwischen einer linken Guerilla und der Armee. Die meisten Toten und Verschwundenen werden den Streitkräften oder den ihnen angeschlossenen Todesschwadronen zugeschrieben. Die Militärs kontrollieren traditionell die strategischen Bereiche des Staates wie das Innenministerium, die Telekommunikation, den Zoll und die Einreisebehörde.

In den letzten zehn Jahren haben sie nicht nur zögernd einige dieser Funktionen abgegeben, sondern ihre Rolle in der Gesellschaft grundsätzlich zu überdenken begonnen. Und es ist kein Geheimnis, daß innerhalb der Armee zumindest zwei Geisteshaltungen herrschen, obwohl die Generäle nicht müde werden, den „monolithischen“ Charakter der Streitkräfte zu beschwören. Gabriel Aguilera spricht von den „Modernisierern“ und den „Traditionellen“. Während erstere den Wandel nicht nur für unausweichlich, sondern für wünschenswert halten, sehen letztere jeden Abstrich von der bisherigen Machtposition der Armee als Verrat an und sind daher genauso gegen Friedensverhandlungen mit der Guerilla wie gegen die Rücksiedlung ehemaliger Flüchtlinge in die Konfliktzonen.

Besonders extremistische Militärs, deren bekannte Repräsentanten bereits aus dem aktiven Dienst ausgeschieden sind, geben immer wieder als „Vereinigung der Armeeveteranen“ in geifernden Kommuniqués ihre Meinung zu bestimmten Themen zum besten. Zuletzt solidarisierten sie sich anläßlich des Massakers von Xaman mit der Armee. Ein hoher Offizier der Präsidentengarde versichert, daß diese Leute keine Basis innerhalb der Kasernen haben. Doch Ereignisse wie das Massaker von Xaman beweisen, daß sich die moderate Linie bei den unteren Chargen noch nicht durchgesetzt hat.

Stets um die Ehre der Institution bemüht, hat die Armee einen Selbstreinigungsmechanismus geschaffen, der für die Sanktionierung von Kriminellen sorgt. So werden Offiziere, die in Drogengeschäfte, Kidnapperbanden, Autoschmuggelringe oder illegale Abholzung verwickelt sind, intern gemaßregelt und von verantwortlichen Posten entfernt und gegebenenfalls vorzeitig pensionert. Nach außen dringt darüber wenig, denn es könnte dem Ansehen der Institution schaden, wenn aufflöge, in welchen Kreisen sich manche der Herren Offiziere bewegen.

Mit dem Ansehen der Streitkräfte steht es nicht zum besten: immer wieder werden geheime Massengräber entdeckt, in denen die Opfer von Massakern verscharrt wurden. Zwar fanden die Massenmorde größtenteils unter der Gewaltherrschaft der Generäle Romeo Lucas Garcia, Efrain Rios Montt und Oscar Humberto Mejia Victores zwischen 1980 und 1983 statt. Doch hat bis heute kein Offizier öffentlich Selbstkritik an diesem Vorgehen geübt. Selbst das Argument, die marxistische Guerilla sei erfolgreich zurückgeschlagen worden, ist nicht zugkräftig. Heute muß der Generalstab mit ebendieser Guerilla verhandeln.

Will die Armee ihr Image aufmöbeln, so wäre die logische Konsequenz, jeden Übeltäter der Justiz auszuliefern. Das meint auch der Offizier aus der Präsidentengarde, der namentlich nicht genannt werden möchte. Doch die notorischen Verletzer der Menschenrechte sind – aus falsch verstandenem Korpsgeist – bisher immer gedeckt worden. Mit dem Effekt, daß keiner glauben will, daß sich die Armee wirklich geändert hat. Daß zumindest der tonangebende Teil die Zeichen der Zeit erkannt hat, sieht man an der Haltung der Militärs in den Friedensverhandlungen mit der Guerilla. Während sich die Agraroligarchie mit allen Mitteln gegen die Besteuerung von Brachland zur Wehr setzt und die Gespräche am liebsten zum Scheitern brächte, hat die Armeeführung sowohl die Truppenreduzierung von 45.000 Mann auf 35.000 als auch den Rückzug aus dem Bereich der inneren Sicherheit längst akzeptiert. Bei Verhandlungen in Oslo im Jahre 1994 hat sie sogar der Einsetzung einer „Kommission der Vergangenheit“ zugestimmt, die die Kriegsverbrechen der letzten Jahrzehnte untersuchen soll. Unter der Auflage freilich, daß keine Namen genannt werden – und also niemand belangt werden kann.

Auch in Friedenszeiten laufen die Uniformierten nicht Gefahr, die Kontrolle zu verlieren. Denn selbst wenn die Regierung bereits mit dem Bau eines Gebäudes für einen neuen Geheimdienst unter ziviler Führung begonnen hat, wird die Armee ihre Archive sicherlich nicht für die Neulinge öffnen. Über die Präsidentengarde, die ursprünglich zum Schutz des Staatschefs ins Leben gerufen wurde, mit der Zeit aber immer mehr Funktionen übernahm, hat sie auch ihren Oberbefehlshaber in der Hand.

Der „Estado Mayor Presidencial“ sorgt nicht nur für die Sicherheit des Präsidenten, sondern führt auch dessen Terminkalender. Es geht sogar das Gerücht, daß die Experten der Garde im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen (siehe Kasten) bereits das Profil ihres neuen Schützlings studiert haben, um ihm alle Wünsche erfüllen zu können: von den Hobbys über den Speisezettel bis zu sexuellen Vorlieben. Mit der Zeit würde der Präsident in völlige Abhängigkeit geraten. Dieses Gerücht wird zwar bestritten, aber der Einfluß der Präsidentengarde ist unbestreitbar. Monica Pinto, die für Guatemala zuständige Menschenrechtsexpertin der Vereinten Nationen, hat deswegen die Auflösung der Garde gefordert.

Schon vor zehn Jahren versuchte der Christdemokrat Vinicio Cerezo mit deutscher und spanischer Hilfe, eine von der Armee unabhängige und professionelle Polizei aufzubauen. Der Versuch wurde von den Militärs systematisch sabotiert. Wenn es auf der Grundlage des Friedensvertrags, der in der ersten Hälfte dieses Jahres perfekt sein soll, gelingt, die Armee tatsächlich auf ihre ursprünglichen Funktionen zurückzustutzen, beginnt in Guatemala der Demokratisierungsprozeß.

Die neuen Streitkräfte sehen ihre Aufgabe nicht mehr in der Kommunismusbekämpfung, sondern wollen sich als Drogenfahnder und Schützer der Naturparks vor illegaler Ausbeutung profilieren – wofür es allerdings noch keine verfassungsmäßige Grundlage gibt.

Inzwischen ist die Armee auch zu einem Wirtschaftsfaktor geworden. Die guatemaltekischen Militärs haben ihre Finger in allen möglichen Unternehmen. Grundlage ist die Pensionsversicherungsanstalt der Armee, die vor Jahren bereits mit ihren Überschüssen eine eigene Bank gründete. Die wiederum ist Aktionärin bei einer Anzahl von Wirtschaftsbetrieben. Um die Zukunft der hohen Offiziere muß man sich also keine Sorgen machen, auch wenn in Guatemala Frieden herrscht.