Wie real ist das Reale?

■ Ist das „Verschwinden von Wirklichkeit“ ein Verlust oder eher ein Gewinn? Darüber wird ab kommender Woche im Literaturhaus gestritten / Ein Interview mit der Programmchefin Ursula Keller

taz: Von kommenden Dienstag an wird in regelmäßigen Abständen im Literaturhaus über das „Verschwinden der Wirklichkeit“ nachgedacht, das, so die Grundannahme der Veranstaltungsreihe, sich gegenwärtig vollzieht. Warum zu diesem Zeitpunkt dieses Thema?

Ursula Keller: Es drängt sich geradezu auf. Wir leben in einer Gegenwart, in der sich der Aggregatzustand von Wirklichkeit in einem rapiden Maße ändert. Der Status von Wirklichkeit steht zur Debatte, und es ist verblüffend, wie wenig das in der Öffentlichkeit reflektiert wird. Was bedeuten virtuelle Medien für unseren Leib? Was heißt es für unsere Wahrnehmung, wenn sich die sozialen Beziehungen ins Mediale verflüchtigen? Das sind wichtige aktuelle Fragen.

Sie meinen nicht, daß sie längst zu Modethemen verkommen sind?

Nein. Wenn diese Fragen behandelt werden, dann nur im Kontext der neuen Medien, nicht umfassend auf die Wirklichkeit zugeschnitten. Außerdem sind die zehn Medientheoretiker, die sich ständig auf Kongressen treffen, untereinander stets ziemlich einig. Aber die realen Verschiebungen der Wirklichkeit werden zuwenig bedacht. Dabei sind wir mit den Veränderungen unserer Wahrnehmungsweisen alltäglich konfrontiert. Das Thema ist uns vor die Füße gefallen, aber niemand greift es auf.

Was möchten Sie denn mit der von Ihnen konzipierten Veranstaltungsreihe erreichen?

Zunächst muß man feststellen, daß bezüglich des Themas zwei getrennte Diskurse nebeneinander herlaufen. Zum einen gibt es diejenigen, die die neuen Medien als Spielbaukasten betrachten. Die Vertreter dieses Diskurses sehen ausschließlich die Gewinne der gegenwärtigen Wirklichkeitsveränderungen. Auf der Gegenseite stehen die in der Schmollecke, die nur auf die Verluste reagieren. Die Reihe soll beide Diskurse verknüpfen, indem sie in jeder Veranstaltung einen Euphoriker mit einem Skeptiker zusammenbringt.

Werden die sich überhaupt verständigen können?

Das wird sich zeigen. Wenn es gelingt, könnte eine Debatte über Deutungsmuster entstehen. Am 8. Februar etwa treffen Norbert Bolz und Bernd Guggenberger aufeinander. Sie reden über die Frage „Was ist Wirklichkeit und wozu brauchen wir sie?“ Da wird Spannung entstehen, ihre Wirklichkeitsdeutungen weichen entschieden voneinander ab. Guggenberger diagnostiziert im Kontext der neuen Medien eine Verflachung der Sinne, einen Verlust von Erfahrungsmöglichkeiten, einen Verlust der Differenzierungen. Für Bolz dagegen sind die im Hypertext nomadisierenden Individuen freier und beweglicher geworden. Sie haben Ballast abgeworfen. Natürlich heißt das auch, daß Individuen nicht mehr in der alten Form existieren, aber, so wird Bolz sagen, was soll's?

Ist die Gesprächskonstruktion nicht allzu idealistisch? Können sich Skeptiker und Euphoriker überhaupt auf die gleichen Fragestellungen einigen?

Zumindest steht dasselbe Thema im Raum. Die Teilnehmer werden über dieselben Phänomene sprechen, allerdings werden sie sie anders bewerten und interpretieren. Was ich hoffe, ist, daß so ein Diskurs über die einzelnen Sichtweisen entsteht, ein – wenn man so will – Diskurs über Diskurse.

Sie haben also keine Ambitionen, Gegner miteinander zu versöhnen?

Oh, nein. Viel eher soll die Konfrontation herausgearbeitet werden. Das Thema soll alle seine Facetten entfalten.

Wie ist Ihre eigene Position in der Verlust-Gewinn-Frage?

Meine Haltung wäre die einer abwartenden Beobachtung mit Hang zur Skepsis den neuen Wirklichkeiten gegenüber. Die entscheidende Frage wird sein, wie die virtuellen Wirklichkeiten und unsere vertraute Wirklichkeit miteinander umgehen werden. Werden sie sich überhaupt berühren? Werden sie sich vielleicht ergänzen? Oder wird sich die virtuelle Realität gefräßig verhalten, und wie ersatzlos läßt sich dann die vertraute Realität streichen? Das muß man ausloten.

Apropos mediale Veränderungen: In der letzten „FAZ“-Literaturbeilage wurde zum erstenmal eine CD-Rom besprochen, auf der Romane gespeichert sind. Werden Sie sich eine davon kaufen?

Niemals.

Fragen: Dirk Knipphals