Sprungbrett ins Krankenhaus

90.000 deutsche Skifahrer werden jährlich Opfer eklatanter Pistenunfälle. Doch für viele Brettlnarren ist das Ski-Risiko nur ein Teil des Lebensspiels  ■ Vom Tatort in den französischen Alpen Reimar Oltmanns

Kapitän Laurent Thimothée muß jetzt Obacht geben. Mit einem Alouettes-III-Rettungshubschrauber überfliegt er soeben scharfgeschnittene Schutthänge, die so aussehen wie Kohlehalden. Hier, in der Westwand der 4.208 Meter hohen Grandes Jorasses im Mont-Blanc-Massiv, hat erst vor kurzem eine Eislawine acht Bergsteiger in den Tod mitgerissen. „Das Risiko“, bedeutet der 38jährige Rettungspilot von der französischen Gebirgsgendarmerie, „ist schließlich gerade hier in den Alpen ein bizarrer Teil des Lebensspiels, das da auf Skiern oder auch als Snowboard daherkommt.“ Und Lawinen rasen überall dort zu Tale, wo Schnee in kahlen Steilhängen liegt – in den Pyrenäen, den Rocky Mountains, den Anden, im Kaukasus und den Alpen.

Gerade dort gibt es so viele Lawinen und so viel Gewöhnung daran, daß abgeklärte Talbewohner in der Niederfahrt der weißen Massen trotz aller Sorge zudem ein grandioses Naturschauspiel sehen. Durch Rodungen der Almen zu breiten Schneeboulevards liegt die Baumgrenze etwa dreihundert bis fünfhundert Meter niedriger als in früheren Jahren.

Dafür gibt es hier in den französischen Alpen immerhin sehr lange Abfahrten, Riesenabfahrten, Traumabfahrten, die den üblichen Rahmen sprengen, die steil und einsam ihre Schleifen über scheinbar unberührte Tiefschneehänge ziehen. In sieben Tagen 600 Kilometer Abfahrten zu bewältigen, so heißt das vorzeigbare Ziel. Täglich an die sechs Stunden über Buckelpisten, Firnschneeflächen und plattgewalzte Schneeautobahnen zu zischen: zweitausend Meter talwärts und im computergesteuerten Sportzirkus wieder hochliften.

Eben die Lustangst vor dem Rutsch, das Abbrechen des Schneebretts, dann die Vibration, der Boden gleitet unter den Füßen weg. Danach Aufruhr, Durcheinandergewirbelt-Werden, schließlich Ruhe. Blutgefäße platzen unter der Haut. Er hört, gut geleitet durch gepreßten Schnee, wie sich das Blut ins Gewebe, in die Muskeln ergießt. Ab und zu mischt es sich mit einem Knarzen, wenn die Schneemassen im Lawinenkegel ein wenig nachrutschen. Der zunehmende Druck verschont keinen Körperteil. Nase und Ohren sind verstopft. Die Augenlider – unmöglich, sie zu öffnen. Der Mund ist halb mit Schnee gefüllt.

Es ist die Angst vor der Leere und Sinnlosigkeit schlechthin, die Angst vor dem Tod. Das ist der unausgesprochene, aber allgegenwärtige Antrieb für den Kult des durchtrainierten, gebräunten Alpinkörpers, der uns beim Skifahren als Idealbild präsentiert wird.

Für derlei Szenarien stehen die Menschen oft auf dem Weg ins Hochgebirge tagelang im Stau, verbrauchen in der Kälte Unmengen Energie und Ausrüstungsmaterial, das ihnen eine beflissene Industrie bereitstellt: immer neue Bindungen, Fieberglasbretter, fesche Anzüge, Daunenwesten, gekrümmte Stöcke, Helme, Skibrillen und Bommelmützen für kitzelige Lawinenmomente, Prickelgefühle.

Oben am Berg werden für jene Touristenscharen die Hänge abgeholzt – und erodieren für immer. Das bißchen übriggebliebene Tierwelt wird verscheucht. Die schönste Landschaft gerät so zum Zirkus. Gewiß – aus der Distanz schaut sie schon majestätisch aus, die beschauliche Welt der Alpen. Da reiht sich Gipfel an Gipfel zum berauschenden Panorama. Im Jahre 1938 wurden im gesamten Alpenraum erst rund 50 Millionen touristische Übernachtungen gezählt, inzwischen sind es schon weit über 500 Millionen.

„Die Alpen – ein System unter Druck“, betitelte die Genfer Weltnaturschutzunion IUCN ihre Studie. Das bedeutet: etwa 12.000 Seilbahnen und Lifte sowie 41.000 Abfahrtpisten mit einer Gesamtlänge von über 120.000 Kilometern zerhacken Landschaften, ruinieren die Umwelt. Und in den Tälern wird es ohnedies stets enger. Dort leben schon heute rund 11,2 Millionen Menschen eng zusammen.

„In der vergangenen Saison“, resümiert Alouettes-Kapitän Laurent Thimothée, haben wir mit etwa 230 Flügen über 1.150 Bergurlauber in die Heimat gejettet. Alle hatten sie eins gemeinsam: schwerste Skiverletzungen. Manchmal war auch ein Sarg mit dabei.“ Und die Zahl der Skifahrer, für die der Urlaubstag nicht an der Hotelbar, sondern im Krankenhaus endet – diese Anzahl steigt ständig. Vor allem Selbstüberschätzung, Imponiergehabe, Konditionsmangel und der Geschwindigkeitsrausch abfahrtverrückter Skifahrer führen zu Unfällen. Die Alpen-Bilanz: viermal mehr Wirbelbrüche als noch vor fünf Jahren, dreimal mehr Hüft- und Beckenbrüche, 50 Prozent mehr Kapselbandverletzungen, 30 Prozent mehr anprallbedingte Kopfverletzungen, oft mit schweren Schädel-Hirn-Traumen. „Die Risikobereitschaft“, erläutert Kapitän Thimothée, „steigt enorm an. In über 80 Prozent der Unfälle sind die Skifahrer ohne Fremdverschulden gestürzt.“

Eben noch strahlende Sonne und Spaß auf der Piste, dann verkantet, überdreht, Sturz, Spital – und, wenn der Schmerz schon längst vergessen ist, die saftige Krankenhaus- und Transportrechnung. Den Statistiken zufolge müssen sich jeden Winter knapp zwei Prozent aller Wintersportler nach einem Skiunfall in ärztliche Behandlung begeben. Über 90.000 deutsche Skifahrer werden jährlich Opfer eklatanter Pistenunfälle. An die 10.000 landen zur stationären Versorgung im Krankenhaus, über 1.000 Skiunfallopfer tragen bleibende gesundheitliche Schäden davon.

Für einen Oberschenkelhalsbruch in den französischen Bergen macht der Deutsche Skiverband folgende Rechnung auf: Die Kosten für Bergung, dreiwöchigen Krankenhausaufenthalt und Rücktransport belaufen sich auf 48.479 Mark. Für knapp drei Viertel dieser Summe muß das Unfallopfer selbst aufkommen, da die gesetzliche Krankenkasse nur zirka 13.500 Mark erstattet.

„Jeden Winter beweisen es die Alpen dem Menschen aufs neue, daß er nicht dazu konstruiert ist, auf zwei Brettern einen Berg hinunterzufahren“, konstatiert Marielle Goitschel, einst frenetisch gefeierte Olympiasiegerin und Weltmeisterin aus dem Jahre 1968. Die heutige Skilehrerin und Direktorin der Schneeakademie von Val Thorens zählt zu den schärfsten Kritikerinnen der Bergsport-Industrie. „Wir alle rennen in der Wintersaison nur dem Geld hinterher“, gesteht sie. „Wir schielen auf die Kunden, ohne uns die Zeit zu nehmen, ihnen die Sicherheit zu erklären.“ Als Marielle Goitschel dieses Interview gab, konnte sie nicht ahnen, daß soeben in diesem Moment draußen ein siebenjähriges Mädchen auf der Anfängerpiste von einem Schnee-Surfer tödlich niedergerissen wurde.

Frankreichs Wintersaison 1995/ 96 war noch keine drei Tage alt.