■ Für den Westen war Heiner Müller schon seit Jahren tot, für den Osten ist sein Tod ein existentieller Verlust
: Der Terror kommt aus Deutschland

Bei Stalin war die Sache klar. Sirenen heulten, und die Welt stand still. Wenigstens zwischen Elbe und Beringmeer. Kein Zaudern auch bei Rühmann, Heinz, gestorben am Einheitsfeiertag 1994. „Er war unangefochten Deutschlands größter Komödienstar“, rief der Spiegel nach, und öffentlich-rechtlich trug man seine größten Hits zur Prime time in die Wohnzimmer von Ost und West. Pfeiffer mit drei f, das Ufa-Knabengesicht, das auch für den Teufel grinste, und nun Müller mit zwei l. Mausetot seit letzten Sonnabend. Keine Sirenen, dafür Kelly Family und „Die Doofen“ in der ARD und, seit dem Neujahrstag, das große Schlaubergerquiz im deutschen Feuilleton. Preisfrage: Wie lange war Müller schon tot, als er starb?

Sind es fünf oder doch nur vier Jahre? Für Peter Iden in der Frankfurter Rundschau und Arno Widmann in der Zeit verendete der Dramatiker mit der Wiedervereinigung, für Gerhard Stadelmaier in der FAZ schon mit dem Mauerfall. Richard Herzinger im Tagesspiegel sah Müller nach dem Ende der DDR von Marx zu Jünger fliehen und dann vollends zum Entertainer schrumpfen.

Müllers Weg von der „Wolokolamsker Chaussee“ zum „Boulevard Bio“ – natürlich über Los und natürlich 4.000 Mark eingezogen.

„Heiner Müller: Wer erbt seine Mios?“ fragt deshalb das Boulevardblatt BZ, und auch die FAZ versucht, den Neid ihrer minderbemittelten Leserschaft zu wecken: „Nach der Wiedervereinigung, in der er, der D-Mark-Tantiemen- Millionär, nur höhnisch die Errichtung eines D-Mark-Landes sah, wandte Müller sich folgerichtig dem Konservierungsgeschäft zu.“ Vorher aber, so weiß Stadelmaier zu berichten, motzte der privilegierte Dramatiker noch einmal kräftig, „weil er weder in Ost- noch in West-Berlin den richtigen Abschneider für sein Markenzeichen, die Havanna-Zigarre, fand“.

Falsch. Zwar stimmt es, daß Müller im Westberliner Interconti ebenso beharrlich wie vergeblich um einen geeigneten Zigarrenabschneider bat und diesen mißlichen Umstand zum Anlaß nahm, dem System Mangel an Kultur zu attestieren. Doch im heimatlichen Osten wurde er erhört. Im Grand Hotel in der Friedrichstraße servierte man Müller acht Tage nach der ersten Klage ein eigens aus Italien importiertes Gerät, mit dem er seine „Monte Christo“ stilgerecht, weil glatt, abschneiden konnte. Womit wir beim eigentlichen Thema sind: der unterschiedlichen Müller-Rezeption in Ost und West.

Denn während für die meisten altbundesdeutschen Nachrufer Müllers Leiche nur ein willkommener Anlaß ist, um der Welt wieder einmal mehr zu zeigen, wo Zeitgeist-Barthel schon lange nicht mehr den Most holt, ist sein Tod für viele Ostler ohne Übertreibung ein existentieller Verlust.

Müller, das war zu DDR-Zeiten eine der wenigen Antworten auf die Frage, warum man angesichts des machtgewordenen Schwachsinns nicht das Weite suchte. Bier und Brot waren billig zu haben. Nur war der Preis, den man für diesen egalisierenden Luxus zu zahlen hatte, hoch. Und er stieg mit jeder Funktionärsrede, in der man trotz gutwilligster Exegese kaum mehr intellektuelle Substanz zu entdecken vermochte als im Grinsen des Herrn Krenz. Jeder denkende Mensch hätte sich verarscht fühlen müssen, doch davor schützte die Gewißheit, daß der Blödsinn, den man da schluckte, authentisch war und wenigstens bis zum Aussterben der altkommunistischen Opfergeneration irgendwie auch moralisch legitimiert.

Mauer und Zensur begrenzten den Erfahrungshorizont; aber auch dafür gab es ja Müller. Es waren weniger die Stücke, die erst spät und selten nur angemessen inszeniert wurden, als vielmehr die Person. Heiner Müller drehte seine Pirouetten für die einen, für die anderen drehte sich Katarina Witt. Beide allein und immer öfter auf fremdem Eis. Doch der Applaus drang über den Zaun und ergoß sich als Sommerregen über das von Minderwertigkeitsgefühlen ausgedörrte Land. Gold für Kati, und auch uns Heiner hat es wieder geschafft: dem Westen eins geblasen, den eisigen Atem der Geschichte vermischt mit Ia-Castro-Zigarren- Rauch, immer rein, den ach so libertären Weicheiern direkt ins vom Wohlstand glattgebügelte Gesicht.

Wäre es dabei geblieben, seine Leichenredner hätten vermutlich recht. Müller und die DDR, dann Kerzenwachs und Konterrevolution, schließlich der Mauerfall, ein letzter Vorhang, und tschüs.

Doch Fehlanzeige. 4. November auf dem Berliner Alexanderplatz. Jeder schmiert jedem Honig um die Backe. Nur Parisbar-Müller, schon ein paar Wodka intus, läßt den „dritten Weg“ links liegen, sich einen Zettel in die Hand drücken und kommt dem enthusiasmierten Volk mit Schweiß: „Die nächsten Jahre werden für uns kein Zuckerschlecken. Der Staat fordert Leistung, bald wird er mit Entlassungen drohen.“ Unruhe, schließlich Pfiffe, doch Müller, weit gereist, weiß, wovon er spricht. Ein paar Monate später weiß es auch der Rest und beginnt zu lamentieren. Doch da steckte er schon bis zum Hals in der Scheiße, in die er sich selber ritt.

Müller hätte lästern können. Er tat es nicht. Statt dessen Arbeit und Ärger im „Konservierungsgeschäft“: Akademie der Künste, BE-Intendanz. Nicht Nekromanie trieb ihn, nicht, wie unterstellt, eine unkündbare Symbiose mit der gestürzten Diktatur, eher war es wohl der „Ekel am Heute und Hier“.

Ein Brechreiz, der ihn mit all jenen verband, die bis jetzt frustriert in der Ecke sitzen und tagtäglich miterleben müssen, wie der Schwachsinn schon wieder und diesmal als vermeintlich gesamtdeutscher Diskurs an ihrer Selbstachtung nagt. Miterleben müssen, weil sie schon zu lange die Klappe gehalten haben, weil sie unfähig sind, zurückzuschlagen, weil sie Dreck am Stecken haben oder einfach nur, weil sich in Hamburg keine Sau für ein leise dahingestottertes „Ja, aber...“ interessiert.

„Vergessen und Vergessen und Vergessen“. Das Eis blieb dem Osten fremd, also mußte Müller wieder stellvertretend seine Pirouetten drehen. Er plauderte auf RTL mit Alexander Kluge und bot so der Staatsräson gewordenen Geschichtsklitterung wenigstens für ein paar Minuten die Stirn.

Jetzt ist er tot.

Ein Freund holt Durs Grünbeins FAZ-Abschiedsgedicht aus der Tasche, liest die letzte Zeile: „Der Terror, von dem er schrieb, kam aus Deutschland.“ Er korrigiert: „...kommt aus Deutschland.“ Richtig, der Krieg geht weiter, ohne Schlacht und nun auch ohne Müller. Trauerarbeit heißt: ab jetzt selber kämpfen. André Meier