Aus meinem Leben in der Schwebe

Paul Austers neuer Roman „Mr. Vertigo“ erzählt die Lebensgeschichte eines Wunderkinds und wie man lernt, ohne Wunderkräfte weiterzuleben  ■ Von Jörg Lau

In jenen achtziger Jahren, an deren Ende der amerikanische Schriftsteller Paul Auster auch hierzulande zu beträchtlichem Ruhm kam, gehörte eine „Einführung in den Strukturalismus“ bereits zu den obligatorischen Aufwärmübungen des Literaturstudiums. Der erste Glaubenssatz, den man dort zu memorieren lernte, war die Lehre von der „Arbitrarität des Zeichens“ nach Ferdinand de Saussure – die nichts anderes besagen will, als daß es zwischen Bezeichnendem (Signifikant) und Bezeichnetem (Signifikat) keinen zwingenden, notwendigen Zusammenhang gebe, daß also sprachliche Bedeutung auf zufälligen, willkürlichen, auch anders möglichen Verknüpfungen beruht. Oder um es mit einem früheren Zeichentheoretiker zu sagen: „Was uns Rose heißt, wie es auch hieße, würde lieblich duften“ (Shakespeare).

Ich glaube mich erinnern zu können, daß diese Lehre mit einer enormen Euphorie aufgenommen wurde, als bedeute sie: Nichts gilt mehr, und alles ist möglich. Das mochte im Prinzip ja richtig sein. Aber was bedeutet das schon für einen Romanleser? Der Autor mag uns ironisch seiner zeichensetzenden Souveränität erinnern – man denke an Romananfänge wie „Eduard – so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter“ oder „Ich bin nicht Stiller“ –, aber damit ist noch nichts gewonnen, wenn es ihm nicht gelingt, bei uns die Lust zu erzeugen, seinen souveränen Verknüpfungen auch zu folgen. Nichts Nervtötenderes, als ein Autor, der langweilt und dann auch noch ständig durchblicken läßt, daß – „Huhu, hier bin ich“ – er seine Lizenz zum Schwadronieren von Ferdinand de Saussure höchstpersönlich bekommen hat. Gut zu wissen, daß – wenigstens im Prinzip – alles möglich ist, aber anything goes ist keine brauchbare Arbeitshypothese für einen Schriftsteller. Im Gegenteil – wer zuviel daran denkt, wird bald schon keine Zeile mehr zu Papier bringen.

Paul Auster ist ein Autor, der immer wieder wissen will, wieviel möglich ist. Er hat aus dem Spiel mit den Personennamen eine regelrechte Manier gemacht. In „Schlagschatten“ etwa, dem zweiten Teil seiner New-York-Trilogie, tragen alle Figuren die Namen von Farben – White, Black, Brown und so weiter. In seinem neuen Roman kommt ein gelehrter junger Schwarzer vor, der Äsop heißt – Sie wissen schon, wie der legendäre griechische Fabeldichter, der um die Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. auf Samos lebte. Und der schelmenhafte Held der Geschichte trägt den Namen Walt Rawley, was lautlich an Sir Walter Raleigh erinnert, den kühnen englischen Seefahrer und Schriftsteller, der 1595 auf der Suche nach dem sagenhaften Eldorado in Guayana landete. Die letzte Frau unseres Helden wiederum heißt Molly und mit ihrem Mädchennamen Quinn, wobei der Vorname uns durchaus an Molly Bloom aus dem Ulysses von James Joyce erinnern darf (Molly Quinns erster Mann war „ein netter, fleißiger Ire“), während der Nachname die Auster- Gemeinde auf den ersten Roman des Meisters zurückverweist, „Stadt aus Glas“, in dem die Handlung dadurch in Gang kommt, daß ein Mann namens Quinn einen Anruf von jemandem erhält, der einen Privatdetektiv namens Paul Auster sprechen möchte. Quinn gibt sich für diesen Paul Auster aus, und im selben Augenblick fängt der Wahnsinn an ...

Stopp. Genug. Das sind nur die paar Verweise, die mir aus der Lektüre von „Mr. Vertigo“ erinnerlich sind. Sicher sind schon einige anglistische Dissertationen in Arbeit, die das Thema „Intertextualität in den Romanen von Paul Auster“ mit der gebotenen paranoiden Gründlichkeit verfolgen, zu der dieser Autor mit seinen in alle Richtungen davonstiebenden Anspielungen anzustiften vermag. Auster hat übrigens, und damit dann wirklich genug von den zeichentheoretischen Grübeleien, in seinen bereits erwähnten ersten Roman, „Stadt aus Glas“, eine Theorie, genauer gesagt: Theologie eingebaut, die die Arbitrarität des Zeichens als Folge der Erbsünde deutet:

„Eine der Aufgaben Adams war es, die Sprache zu erfinden, jedem Geschöpf und Ding einen Namen zu geben. In diesem Zustand der Unschuld hatte seine Zunge unmittelbar ins Mark der Welt getroffen. Seine Wörter waren den Dingen, die er sah, nicht nur angehängt worden; sie hatten ihr Wesen enthüllt und sie buchstäblich zum Leben erweckt. Ein Ding und sein Name waren austauschbar. Nach dem Sündenfall galt das nicht mehr. Die Namen lösten sich von den Dingen; die Wörter verwandelten sich in eine Sammlung willkürlicher Zeichen. Die Sprache war von Gott getrennt worden. Die Geschichte vom Garten Eden zeichnet daher nicht nur den Fall des Menschen auf, sondern auch den Fall der Sprache.“

Paul Austers Hochdruckerzählkunst wäre also gar nicht so naiv, wie es Rezensenten hierzulande gern weismachen. Sein Fabulieren würde nicht dadurch in Gang gehalten, daß er als tumber Ami glücklicherweise „von der (europäischen) Krise des Erzählens nie etwas gehört“ hat (so Peter Buchka in der Süddeutschen Zeitung). Es wäre eher das melancholische Unternehmen eines aus dem Stand der Unschuld Vertriebenen, der weiß, daß das Paradies verriegelt und der Cherub hinter uns ist, und daß wir eine Reise um die Welt machen müssen und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist. Aber Vorsicht: Nicht von Paul Auster stammt die Theorie vom semantischen Sündenfall, sondern von dem von ihm erfundenen Professor Stillman aus „Stadt aus Glas“ ...

„Mr. Vertigo“ ist, auch dies ein Auster-Lesern vetrauter Kniff, die Lebensbeichte des Protagonisten, der uns darüber in Kenntnis setzt, wann, wo und warum er angefangen hat, sein Leben aufzuschreiben. Wir müssen annehmen, daß er tot ist, während wir seine Geschichte lesen, denn er schreibt, er wolle verfügen, daß seine Aufzeichnungen postum erscheinen, damit er nicht miterleben muß, „wie Besserwisser und Schwachköpfe mich in der Luft zerreißen“.

Hier spricht ein alter Mann, der gegen seine Depressionen ankämpft, nachdem seine späte Lebensgefährtin gestorben ist. Er hält zum Glück des Lesers nicht allzu viel von der Würde des Alters. Wer so alt ist wie er, so seine tröstliche Sicht der Lage, „braucht sich an keine Regeln mehr zu halten. Man tut, wozu man Lust hat, und nimmt sich, was man zum Leben braucht.“

Die Erzählung dieses herrlich unwürdigen alten Mannes ergibt einen pikaresken Roman reinsten Wassers. Walt Rawley ist schon am skaz-Ton deutlich als Abkömmling der literarischen Linie von Huckleberry Finn, Holden Caufield, Oskar Matzerath und Garp zu erkennen. Er ist auf der Flucht vor der Erwachsenenwelt und gleichzeitig auf der Suche nach der Familie, die er nie hatte. Walt findet eine Familie, und die ist so künstlich zusammengesetzt wie Amerika selber – sie besteht aus Meister Yehudi, dem ungarischen Wunderrabbi, Mutter Sue, der wahrhaftigen Enkelin von Sitting Bull, einst Voltigiererin in Buffalo Bills Wildwestshow, und dem schon erwähnten schwarzen Jungen namens Äsop – aber diese seltsamste aller Kernfamilien wärmt ihn doch und stachelt ihn zu außergewöhnlichen Leistungen an. Meister Yehudi nämlich bringt dem verwilderten Knaben eine Fähigkeit bei, mit der dieser bald im ganzen Land als Walt der Wunderknabe bekannt wird: Levitation. Walt kann nach einer Reihe schrecklicher Kasteiungen, die an mönchische Bußübungen erinnern, eines Tages schweben und bald auch fliegen und auf dem Wasser gehen.

Das ist erstaunlich, aber erstaunlicher noch als die Fähigkeit seines Helden ist Paul Austers Geschick, uns diese Räuberpistole vom fliegenden Walt auf eine so lakonische Weise aufzutischen, daß das Phantastische daran völlig in den Hintergund tritt. Walt spricht von der Levitation wie von einem Trick, der es ihm ermöglicht, eine große Nummer zu werden und ein paar Dollar abzusahnen. Auster könnte aus der Geschichte nun eine Parabel über einen falschen Messias und das amerikanische Erlösungsbedürfnis machen.

Aber die religiöse Sozialpathologie ist zum Glück nicht sein Thema. Die Geschichte dreht sich eher um unser aller Problem – wie man unter Schmerzen ein paar Kunststücke lernt, für die einen die Leute vielleicht eine Zeitlang mögen, und wie man weitermachen kann, wenn man eines Tages für das Wunderkinddasein zu alt ist. „Mr. Vertigo“ ist eine Geschichte vom Erwachsenwerden, eine Geschichte darüber, wie man Verluste überlebt – mit der Pubertät büßt Walt seine Fähigkeit ein, einfach abzuheben – ohne zu regredieren oder einfach ein Teil der schrecklichen Erwachsenenwelt zu werden, vor der man so lange zu Recht geflohen ist.

Am Ende beschreibt Walt, wie er es angestellt hat, wenn er sich bei seinen Auftritten auf Jahrmärkten und in Varietés über die Köpfe der Leute erhob: „Sie müssen lernen, aus sich herauszutreten. Sie müssen sich gewissermaßen in Luft auflösen. Lassen Sie die Muskeln schlaff werden, atmen Sie, bis Sie spüren, wie Ihre Seele aus Ihnen herausströmt, und dann schließen Sie die Augen. So geht das. Die Leere in ihrem Körper wird leichter als die umgebende Luft. Mit der Zeit wiegen Sie weniger als nichts. Sie schließen die Augen; Sie breiten die Arme aus; Sie lösen sich auf. Und dann steigen Sie ganz langsam vom Boden auf.

Etwa so.“

Ich weiß nicht wirklich zu sagen, wie Paul Auster es wieder einmal geschafft hat, den semantischen Sündenfall rückgängig zu machen. Aber ich stelle mir vor, daß die Sache ungefähr so funktioniert wie der Schwebetrick seines Helden.

Ja, etwa so.

Paul Auster: „Mr.Vertigo“. Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Werner Schmitz. 319 Seiten, geb., 42 DM