„Wir sind da in einer hilflosen Position“

■ In diesem Jahr warfen sich schon zwei Menschen vor die U-Bahn. Letztes Jahr stieg die Rate bereits um ein Drittel gegenüber 1994. Jeder dritte Versuch scheiterte

Vorgestern, abends um zwanzig nach zehn auf dem Bahnhof Prinzenstraße. Die U1 Richtung Krumme Lanke rollt ein. Plötzlich rennt eine Person, die auf Höhe des Zugabfertigungshäuschens gewartet hat, los und wirft sich vor die U-Bahn. Der Zugführer zieht sofort die Notbremse. Zu spät. Die 28jährige Frau aus Schöneberg kann von der Feuerwehr nur noch tot geborgen werden. Der Zugverkehr der U1 war für 40 Minuten in beiden Richtungen gesperrt.

Diese Selbsttötung ist bereits die zweite in diesem Jahr. Am 2. Januar warf sich ein Mann am Heidelberger Platz vor eine U-Bahn. „Generell im Spätherbst und Winter“, sagt der BVG-Sprecher Klaus Wazlak, „stellen wir ein Ansteigen der Suizidversuche im Bereich der U-Bahnen fest.“ Speziell aber um Weihnachten sei die Zahl besonders hoch, „wenn die Behaglichkeitswelle rollt“.

32mal haben sich im vergangenen Jahr Menschen vor die U-Bahnen geworfen. Das waren 8 mehr als 1994. Diesen Anstieg um ein Drittel erklärt sich Wazlak mit „gesellschaftlichen Problemen“. Für eine genauere Analyse sei er nicht zuständig, sondern das sei „Sache der Psychologen“. Aufgabe der BVG sei es vielmehr, sich in solchen Fällen um das eigene Personal zu kümmern.

Im jüngsten Fall von vorgestern abend erlitten der Triebwagenführer und der Zugabfertiger einen Schock und sind in ein Krankenhaus eingeliefert worden. Dort erhielten sie Beruhigungsmittel und wurden wieder entlassen. Sie werden die nächsten Wochen, vielleicht auch Monate, krank geschrieben sein. Der BVG-interne Sozialdienst kümmert sich um sie und wird seine Hilfe bei der Verarbeitung dieses Schreckenserlebnisses anbieten. Zudem können sich die Betroffenen von einem externen Psychologen behandeln lassen. Kehren sie wieder in ihren Dienst zurück, ist eine Versetzung möglich; etwa in die Verwaltung.

Wazlak sieht kaum Möglichkeiten, Maßnahmen gegen die Suizidversuche zu ergreifen. „Wenn jemand mit sich und der Welt abgeschlossen hat, dann werden wir ihn nicht daran hindern können, sich bei uns im System das Leben zu nehmen.“ Und fast resignierend fügt der BVG-Sprecher hinzu: „Wir sind da in einer hilflosen Position.“ Vom Singapur-Modell, bei dem Wände mit Türen an der Bahnsteigkante aufgestellt werden, hält er wenig. „Dann springen die Leute auf freier Strecke vor die Züge.“ So wie Ende Dezember, als ein Mann von der Brücke vor dem Nollendorfplatz auf die Gleise der U2 sprang. Wazlak spricht sich auch dagegen aus, die Zugabfertiger noch verstärkt für Lebensmüde zu sensibilisieren.

„Die wären überfordert, wenn sie auch noch auf potentielle Selbstmörder achten müßten.“ Der Job sei so schon hart genug. Mehr als ein „Zurücktreten von der Bahnsteigkante“ sei nicht drin.

Bei 11 der 32 Selbsttötungsversuche im letzten Jahr überlebten die Lebensmüden. Einer blieb sogar unverletzt, anderen mußten Arme, Hände, Beine oder Füße amputiert werden. Christoph Oellers