Das Gewicht von dreitausend Jahren

■ Israel Shakaks provozierende Kritik am religiösen Fundamentalismus in Israel

In Israel findet zur Zeit eine hitzige Debatte über den „Postzionismus“ statt. Nach dem Attentat auf Rabin lautet eine orthodoxe Quintessenz: „Die „zionistische Bewegung“ hat ihre Aufgabe erfüllt und muß ihren Platz in der israelischen Gesellschaft räumen. Nachdem im letzten Jahr der Philosoph Jeshayahu Leibowitz starb, ist einer der leidenschaftlichsten Kritiker der Fundamentalisten der ehemalige Professor für Organische Chemie an der Hebräischen Universität in Jerusalem, Israel Shahak. Shahak wurde 1933 in Warschau geboren und verbrachte seine Kindheit im Konzentrationslager Bergen-Belsen, bevor er 1945 nach Palästina kam. Er setzte sich immer für die universellen Menschenrechte ein und kämpfte gegen den Imperialismus, egal ob dieser religiös oder machtpolitisch drapiert daherkam.

Mit Akribie und Unbestechlichkeit geht er mit seinem eigenen Staat und dessen Geschichte ins Gericht. So lautet eine seiner Thesen: „Nach meiner Meinung stellt Israel als ein jüdischer Staat eine Gefahr nicht nur für sich selbst und seine Bewohner, sondern auch für alle Juden und alle anderen Völker und Staaten des Nahen Ostens und darüber hinaus dar.“

Nach Shahak wird das klassische Judentum zur Rechtfertigung der Politik Israels von den Orthodoxen machtpolitisch instrumentalisiert. So ist seiner Meinung nach der Kibbuz eine „exklusive Utopie“, von der alle Nichtjuden rigoros ausgeschlossen sind. Selbst wenn es sich um einen atheistischen Kibbuz handeln sollte, werden Araber aus Prinzip nicht akzeptiert.

„Es ist diese exklusive Ideologie, es sind nicht die vorgeschobenen ,Sicherheitsinteressen‘ der israelischen Propaganda, die die Übernahme des Landes in den fünfziger und Mitte der sechziger Jahre und dann die besetzten Gebiete von 1967 bestimmt haben.“ Diese Exklusivität herrscht auch in den Siedlungen in den besetzten Gebieten, in denen Nichtjuden „offiziell ausgeschlossen“ sind.

Hart geht Shahak mit dem Talmud und den Schriften des großen jüdischen Philosophen Maimonides ins Gericht. Beide seien angefüllt mit „beleidigenden Anweisungen gegen alle Nichtjuden und mit ausdrücklichen Attacken gegen das Christentum und Jesus“. Diese beleidigenden Stellen wurden seit Mitte des 16. Jahrhunderts aus den Ausgaben in Europa entfernt. Aber nach der Gründung des Staates Israel, „als sich die Rabbiner sicher fühlten, wurden alle diese Beleidigungen in die Neuauflagen wieder eingefügt“. Im Kodex Maimonides, der in einer zweisprachigen Ausgabe 1962 erschien, findet sich in dem „Buch des Wissens“ folgender Satz zur Behandlung „Ungläubiger“: „Es ist eine Pflicht, sie mit seinen eigenen Händen auszurotten.“

Shahak zeichnet ein differenziertes Bild über Einfluß, Macht und Verfolgungen der Juden in Europa. Letztere müssen jedoch von denen der Nazi-Barbarei unterschieden werden. Die Verfolgungen in der Periode des klassischen Judentums waren populäre Bewegungen von unten, wohingegen letztere von oben organisiert und durchgeführt wurden. Das Modell der Judenverfolgung in der klassischen Periode dient nach Shahak den „zionistischen Politikern“ als Modell und Entschuldigung für deren Verfolgung der Palästinenser. Shahak weist auch das Argument zurück, daß der moderne Antisemitismus einhergeht mit dem Aufkommen des Kapitalismus. Nicht die Kapitalisten, sondern die Konservativen, die den Zusammenbruch der alten Ordnung nicht verkrafteten, seien die Quelle des modernen Antisemitismus. „Es ist der moderne Mythos der jüdischen ,Rasse‘ ..., der das formale und bei weitem wichtigste Merkmal des modernen Antisemitismus darstellt.“ Die historische Antwort darauf war der Zionismus. Um sich von all diesen Lasten zu befreien, empfiehlt Shahak eine „rigorose Kritik der jüdischen Religion“.

Abschließend soll aber noch auf eine Gefahr hingewiesen werden, die nicht unterschätzt werden darf. Aufgrund eines der taz-Redaktion vorliegenden Flugblattes wird deutlich, daß dieses Buch auch als eine „Fundgrube“ für eine rechtsradikale und antisemitische Agitation mißbraucht werden kann. So wurden Zitate aus dem Talmud oder von Maimonides, die von Shahak sorgfältig analysiert wurden, aus dem historischen Kontext gerissen, so daß ein Zerrbild des Judentums entstand. Shahaks Anliegen, den religösen Absolutheitsanspruch zugunsten Israels einzudämmen, wird so ins Gegenteil verkehrt.

Israel Shahak beteiligt sich sehr intensiv an der öffentlichen Diskussion in Israel. So hat er u. a. in einem Kommentar für die Tageszeitung Davar, eine überzeugende Erklärung für das Massaker in der Ibrahim-Moschee gegeben, bei dem durch einen jüdischen rechtsradikalen Arzt 29 betende Muslime erschossen wurden. Durch Shahaks Buch wurde auch vielen israelischen Lesern deutlich, wo die Wurzeln für das Attentat auf Rabin liegen.

Der „religiös“ verbrämte Mummenschatz, den einige rechtsradikale Rabbiner vor dem Hause des ehemaligen Ministerpräsidenten aufgeführt haben, sollte die Regierung endlich zum Handeln gegenüber den fanatischen Siedlern in Hebron veranlassen, die die dortige palästinensische Bevölkerung terrorisieren.

Gerade um die Gedankenwelt der Ultra- religiösen in der israelischen Gesellschaft verstehen zu können, ist Shahaks Buch eine Pflichtlektüre.

Daß ein Staat sich solch unbequeme Intellektuelle wie Shahak oder wie früher Leibowitz mit Toleranz erträgt, macht auch seine Stärke aus. Ein außergewöhnliches Buch. Ludwig Watzal

Israel Shahak: „Jewish History, Jewish Religion. The Weight of Three Thousand Years“. Vorwort von Gore Vidal. Pluto Press, London 1994, 127 S., 11,99 Pfund