Politik riskiert eine Wirtschaftskrise

■ DIW konstatiert gravierende wirtschaftliche Rückschläge. Das Wachstum beträgt voraussichtlich nur noch ein Prozent

Berlin (taz) – Die guten Wünsche zum neuen Jahr seien diesmal ganz besonders notwendig, glauben die Wissenschaftler vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Sie rechnen in diesem Jahr mit einem Wirtschaftswachstum von nur mehr einem Prozent – und das sei, so der DIW-Konjunkturexperte Heiner Flassbeck, sogar „durchaus eine optimistische Schätzung“. Die Arbeitslosigkeit werde auf zehn Prozent ansteigen. „Reagiert die Politik nicht, riskiert sie sogar eine Wirtschaftskrise“, warnte der Außenwirtschaftsexperte Joachim Volz. Wirtschaftsminister Günter Rexrodt hatte kürzlich zwei Prozent Wachstum angekündigt.

Für beide Teile Deutschlands konstatiert das DIW gravierende konjunkturelle Rückschläge. So sei die Produktion in der Bauwirtschaft und der Industrie seit dem letzten Herbst rückläufig; die Investitionsneigung schwächte sich ab. In Ostdeutschland werde das Wachstum nur noch vier Prozent betragen. Dort gebe es ohne staatliche Hilfen keine eigenständige Investitionsdynamik, nicht zuletzt weil zu hohe Löhne die Gewinne aufzehrten. Den Abbau des Solidaritätszuschlags könne man sich somit abschminken.

Auch im westlichen Ausland sei die Situation nicht besser, so daß keine Rettung durch höhere Exporte in Sicht sei. Als einzigen Hoffnungsträger für eine konjunkturelle Belebung sieht das DIW den privaten Konsum. Sicher sei das Berliner Institut damit deutlich pessimistischer als andere Prognoseinstitute, ging DIW-Präsident Lutz Hoffmann gestern bei der Vorstellung der „Grundlinien der Wirtschaftsentwicklung“ in die Defensive. Aber schließlich hatte das DIW auch für 1995 die schwärzesten Prognosen abgegeben – und recht behalten.

Und dann prügelten die Wirtschaftswissenschaftler auf so ziemlich alle Akteure der Wirtschaftspolitik ein. Die Regierung starre nur hilflos auf die Haushaltslöcher, die Bundesbank drücke sich vor ihrer Verantwortung, den Unternehmern falle nichts als Rationalisierung ein und die Gewerkschaften wüßten nicht maßzuhalten. Speziell die IG Metall müsse über die seit November wirksame Erhöhung der Tarife neu verhandeln – was diese sofort ablehnte. Das DIW fordert ein echtes „Bündnis für Arbeit“. Dazu müsse sich nicht nur die Gewerkschaft kompromißbereit zeigen. Arbeitgeber und Bundesregierung sollen im Gegenzug auf die Forderung verzichten, soziale Leistungen abzubauen. Der Staat müsse in der Rezession höhere Haushaltsdefizite zulassen, und die Bundesbank müsse die Zinsen senken. Der letzte Wirtschaftsaufschwung in Deutschland sei der schwächste aller Zeiten gewesen – auch deshalb, weil die Bundesbank viel zu früh die Zinsschraube angezogen habe. Es sei daher Unsinn, strukturelle Verkrustungen der Arbeitsmärkte für die hohe Arbeitslosigkeit verantwortlich zu machen.

Der Verlust von einem Prozent Wachstum koste die öffentliche Hand rund 20 Milliarden Mark pro Jahr an Steuern und Sozialbeiträgen. Das Defizit werde 1996 fast 115 Milliarden Mark betragen. In der Situation gehe es erst einmal darum, „nochmals Zeit zu kaufen und die unstreitig notwendige Haushaltskonsolidierung zu verschieben, bis die Wirtschaft wieder Tritt gefaßt hat.“ Nicola Liebert