Das reine Denken

■ Ulrich Sieg stellte den jüdischen Philosophen Hermann Cohen vor

Als „realitätspraktischen“ Denker bezeichnete Ulrich Sieg am Dienstag abend den Philosophen Hermann Cohen. Und entsprechend gestaltete der junge Marburger Wissenschaftler auch seinen Vortrag. Philosophie als Zeitkritik hieß die Veranstaltung der Reihe Jüdisches Denken in der Moderne in der Evangelischen Akademie, die sich halbvergessenen jüdischen Philosophen widmet.

Der 1842 geborene Cohen war ab 1876 Professor für Philosophie in Marburg. Er gründete mit Paul Natorp und dem gemeinsamen Schüler Ernst Cassirer die Marburger Schule, die den logizistischen Zweig des Neukantianismus vertrat. Im Zentrum seiner Lehre steht die Idee vom reinen Denken als einziger ursprünglicher Erkenntnismöglichkeit – das Denken stehe am Anfang aller Wissenschaft. Später befaßte Cohen sich stärker mit religiösen Fragen, ab 1912 wurde er Mitglied der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums in Berlin. Er starb 1918.

Ulrich Sieg machte vor allem auf den Politiker Cohen aufmerksam, der sich erst mit dem Zunehmen der Antisemitismus-Bewegung dem jüdischen Liberalismus zuwand. Cohen habe den Antisemitismus als „nackte Dummheit“ verurteilt, die nicht von langer Dauer sein könne. Ferner berichtete Sieg davon, wie Cohen Alfred Dreyfus als „Märtyrer des Judentums“ rühmte und sich später als überzeugter Anti-Zionist engagierte.

Besonders anschaulich erklärte Sieg den politischen Standpunkt Cohens: Als Gegner des Klassenwahlrechts und der Todesstrafe, als vehementer Verteidiger von Freiheit und Menschenrechten sei er in seiner Zeit als Linksliberaler einzustufen. Heute, so Sieg, stünde Cohen jedoch sicher links der SPD.

Mit dem Vortrag startete die Evangelische Akademie die Reihe Jüdisches Denken in der Moderne. In den kommenden Wochen werden weitere fünf Philosophen – wie Joseph Bär Soloveitchik und Samson Rafael Hirsch – in chronologisch zurückgehender Folge vorgestellt. Nele-Marie Brüdgam