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Fröhlicher Pessimist

■ Institut für Sozialforschung: Norman Davies über das geteilte Haus Europa

Im Jahre 1987 gab es noch die Sowjetunion und schon die Perestroika. Michail Gorbatschow, Staatsoberhaupt der einen und Spiritus rector der anderen, reiste nach Litauen. Wie selbstverständlich ging er davon aus, daß seine Politik auch in diesem Teil der Union begrüßt werden würde. Vor laufenden Kameras ging er auf die wartende Menschenmenge zu und fragte den erstbesten Litauer: „Was kann ich für Sie tun?“ Die Antwort war unerwartet, aber eindeutig: „Sie können wieder gehen!“

Inzwischen gibt es keine Sowjetunion mehr. Perestroika ist ein historischer Begriff geworden. Ethnisch-nationalistische Motive in der Politik haben dagegen, besonders in Osteuropa, eine unerwartete Renaissance erlebt.

Im Rahmen der Vortragsreihe „Ethnisierung der Politik – Politisierung der Ethnizität“ im Hamburger Institut für Sozialforschung am Mittelweg 36 stellte am Donnerstag abend der Historiker und Osteuropaexperte Norman Davies, Professor an der Universität London, seine Thesen zum Thema „Neuordnung Europas nach 1989“ vor.

Davies zeigte sich dabei als scharfsinniger Analytiker und fröhlicher Pessimist. Dem sich ständig vergrößernden Chaos in Osteuropa gilt seine Aufmerksamkeit genauso wie der anhaltenden Lethargie im Westen.

Die „Erbschaft des Eisernen Vorhangs“ ist nach Davies' Ansicht der Hauptgrund dafür, daß die meisten Westeuropäer immer noch so tun, als würden die umwälzendsten politischen und gesellschaftlichen Veränderungen seit 50 Jahren sie nichts angehen. Die Epoche des Ost-West-Konflikts hat demnach zu einer ängstlich-passiven, aber auch bequemen Denkweise in Westeuropa geführt. Die Quintessenz: Man kann nichts machen, man darf nichts machen, man braucht nichts machen.

Diese Denkweise ist, so Davies, inzwischen gefährlich altmodisch geworden. Das sich selbst zerfleischende ehemalige Jugoslawien ist ein erstes Beispiel dafür. Was aber, wenn sich ähnliche Konflikte in Rußland, an dessen Rändern sie ja bereits schwelen, ausbreiten? Davies vergleicht Europa mit einem Doppelhaus. 50 Jahre lang gab es zwei verschiedene Familien, die darin wohnten, zwei verschiedene Eingänge und vor allem eine hohe Mauer im Garten. Jetzt ist die eine Hälfte des Hauses mitsamt der Trennungsmauer zusammengebrochen. Gemeinsame Anstrengungen zum Wiederaufbau sind vonnöten, damit die andere Hälfte nicht auch noch stürzt. Den politischen Willen zu dieser Anstrengung konnte Norman Davies bisher jedoch nicht ausmachen. Tim Fiedler

Am 1. Februar spricht Olivier Mongin am selben Ort über „Nationalistischen Totalitarismus“.

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