Die stille Flucht der Serben aus Sarajevo

■ Die Bewohner von Ilidza schaffen ihren Besitz nach Serbien. Sie fürchten um ihre Sicherheit, wenn Militär und Polizei abzieht und die bosnische Regierung den Ort übernimmt

Sarajevo (taz) – Slavo Samargia besucht den Friedhof von Osijek, um sich von seinem gefallenen Bruder zu verabschieden. Seine 15jährige Tochter Zorica bringt Blumen mit. Es ist vielleicht das letzte Mal, daß sie das Grab aufsuchen. Denn in den nächsten Tagen werden die meisten Serben aus Ilidza wegziehen. Ihre Betten, Töpfe, Geschirr und Kleidung haben sie bereits zu Verwandten in die „Serbische Republik“ geschickt. Ilidza, ein ehemals multiethnischer Vorort von Sarajevo, wird von den Serben kontrolliert und soll an die bosnische Regierung zurückgegeben werden.

„Die Lage bleibt angespannt. Die Bevölkerung ist allgemein damit beschäftigt, ihre Hauseinrichtungen und persönlichen Besitz wegzubringen“, heißt es in einem vertraulichen Bericht der Vereinten Nationen. „Es gibt endlose Konvois“, sagt Antonio Pedauye, UN-Chef in Bosnien-Herzegowina. „Die Menschen wollen weg. 80 Prozent von ihnen haben bereits ihre wertvollsten Besitztümer in die zwei Kilometer entfernte Serbische Republik geschafft.“

Beobachter erwarten, daß einige Serben vielleicht schon heute aus Ilidza wegziehen. Anlaß wäre der Besuch des US-amerikanischen Präsidenten Bill Clinton in Tuzla, der einem serbischen Exodus willkommene Medienaufmerksamkeit verschaffen würde. „Die Menschen hier sind in Panik“, meint Prestojevic Nedeljko, Bezirkspräsident von Ilidza. „Die Menschen vertrauen der muslimischen Regierung nicht, weil sie ihre Sicherheit vor Racheakten nicht garantieren kann.“

Slavo Samargia war als 58jähriger in den letzten drei Jahren Soldat in der serbischen Armee. „Am 19. Januar muß ich weg von hier“, sagt er resigniert. „Unsere Polizei muß dann aus Ilidza abziehen, und niemand wird mehr da sein, um uns zu beschützen.“ Er hat sein Leben lang in Najaridic gelebt, einem serbisch kontrollierten Vorort von Sarajevo. „Ich habe alles, was mir gehört, nach Lukavica geschickt. Da ist es sicherer.“ Zehn Tage lang kann er dort bei Verwandten wohnen, dann muß er weiter. Auf dem Zentralfriedhof von Ilidza kann man an vier frisch aufgeworfenen Erdhügeln erkennen, wo einige Serben sogar ihre Toten ausgegraben haben, auf dem kleinen Friedhof von Osijek sind es vielleicht eine Handvoll. Doch dies sind Einzelfälle. Bei aller Angst vor der bosnischen Regierung würden viele Serben am liebsten in Ilidza bleiben. Vor dem Krieg war Ilidza ein hübscher Ort. Im Tal außerhalb des Zentrums stehen einzelne Häuser auf Hügeln, sauber verputzt, mit kleinen, umzäunten Vorgarten. „Ich habe immer hier gelebt“, sagt Slavo Samargia. „Und ich weiß nicht, wo ich hingehen soll.“

Ob es der internationalen Gemeinschaft gelingt, die Bevölkerung zum Bleiben zu bewegen, ist jedoch zweifelhaft. Sie sorgt sich um ihre Sicherheit. Denn gemäß dem Dayton-Abkommen müssen alle Parteien am 19. Januar ihre militärischen Einheiten zwei Kilometer zurückziehen. Bis zum 3.Februar müssen die serbischen Militär- und Polizeikräfte ganz aus den Gebieten abziehen, die wieder unter die Kontrolle der bosnischen Regierung fallen. Dann rücken die Ifor-Truppen ein, wobei die Zuständigkeiten zwischen Nato-Soldaten und der UN-Polizei, die bislang nur über 117 Mann statt der geplanten 1.567 Mann verfügt, noch unklar sind. Pierre Van Hoeylandt