"Auf den Pfaden der Erinnerung"

■ Der israelische Staatspräsident Eser Weizman hielt vor dem Bundestag eine poetische Rede über Erinnerung, Verpflichtung und den Friedensprozeß in Israel. Die Abgeordneten applaudierten stehend

Berlin (dpa/taz) – Wo immer Deutsche und Israelis aufeinandertreffen, ist die Vergangenheit gegenwärtig, sagte Bundespräsident Roman Herzog, als er am Sonntag den israelischen Staatspräsidenten Eser Weizman in Berlin begrüßte. Wie wahr dies ist, zeigte Weizman nur einen Tag später, als er Vertretern jüdischer Gemeinden erzählte, daß er es unbegreilich finde, wie Juden nach dem Holocaust in Deutschland leben können. Sie sollten doch unverzüglich nach Israel auswandern.

Es ist also kein Wunder, daß gestern nicht nur die Mitglieder des Bundestages Weizmans Rede im Plenum hoch sensibilisiert lauschten, sondern auch die Abgesandten der jüdischen Gemeinden und die über Weizmans Äußerungen ziemlich entsetzten Repräsentanten des Zentralrats der Juden in Deutschland. Gestern nun, in seiner hebräisch gehaltenen Rede, revidierte Weizman seine Position nicht um einen Jota, aber er stellte sie in einen größeren Zusammenhang. Weizmans poetisch formulierte Ansprache zeigte sehr deutlich seinen festen Zionismus, begründet durch die Geschichte „von der Feuersäule des Auszugs aus Ägypten bis zu den Rauchsäulen der Shoah“.

Seine Rede begann mit den Sätzen: „Das Schicksal hat es gewollt, daß ich und die Angehörigen meiner Generation in einer Zeit geboren wurden, in der die Juden in ihr Land zurückkehren und es neu aufbauen konnten. Ich bin nun nicht mehr ein Jude, der in der Welt umherwandert, der von Staat zu Staat ziehende Emigrant, der von Exil zu Exil getriebene Flüchtling. Doch jeder einzelne Jude in jeder Generation muß sich selbst so verstehen, als ob er dort gewesen wäre – dort bei den Generationen, den Stätten und den Ereignissen, die lange vor seiner Zeit liegen. Daher bin ich noch immer auf Wanderschaft, aber nicht mehr auf den abgelegenen Wegen der Welt. Jetzt ... laufe ich auf den Pfaden der Erinnerung.“

Sehr intensiv erinnerte Weizman an die Millionen von Toten, deren Namen man nicht einmal mehr kennt. Die Bundesrepublik sei für alle Zeiten verpflichtet, „jede Regung des Neonazismus zu zerschlagen“. Er dürfe nicht wachsen, „Zweige und Wipfel bekommen“. Und die Toten seien nicht nur Tote, sondern Generationen, denen man die Zukunft genommen habe.

„Wie viele Bücher, die niemals gechrieben wurden, sind mit ihnen gestorben. Wie viele wissenschaftliche Entdeckungen konnten nicht in ihren Köpfen heranreifen? Jeder und jede einzelne von ihnen ist hier zweimal getötet worden. Einmal als Kind, daß die Nazis in die Lager geschleppt haben, und einmal als Erwachsener, der er oder sie nicht sein konnte. Der Nationalsozialismus hat sie nicht nur ihren Familien und den Angehörigen ihres Volkes entrissen, sondern der gesamten Menschheit. Als Präsident des Staates Israel kann ich über sie trauern und ihrer gedenken, aber ich kann nicht in ihrem Namen vergeben.“

Weizman betonte, wie schwer es für ihn sei, „in diesem Land zu sein, die Erinnerungen zu hören und die Stimmen, die zu mir von der Erde schreien“.

Im zweiten Teil seiner Rede beschäftigte Weizman sich mit dem Friedensprozß in Israel, „dem wichtigsten seit der Gründung des Judenstaates“. Sehr verklausuliert berichtete er über die Schwierigkeiten und die Terrororganisationen, die den Frieden sabotieren wollen. „Wir versuchen einen Frieden zu schaffen, der uns ins 21. Jahrhundert führt. Aber alte Kreuzfahrerkarten hängen an der Wand, und alte bliblische Erinnerungen liegen in der Luft.“

Ausführlich würdigte er die Wiedergeburt der hebräischen Sprache. „Es ist die Sprache, in der ich jetzt zu ihnen spreche, die mehr als alles andere Symbol und Zeugnis für unsere Wiedergeburt ist.“

Nach seiner Rede standen die Mitglieder des Bundestages auf und dankten ihm. Weizman ist nach Nixon, Reagan und Mitterand das vierte Staatsoberhaupot, daß im Plenum eine Rede hielt. aku