Borttschellers Rache

■ Drei Hausdurchsuchungen, eine ED-Behandlung, Beschlagnahme von PCs – Sielwallhaus protestiert

Der Vorwurf klingt harmlos, doch er kann eine Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren nach sich ziehen: Wegen des Verdachts der „üblen Nachrede gegen Personen des politischen Lebens“ durchsuchte die Polizei auf Antrag der Staatsanwaltschaft am Mittwoch zwei Privatwohnungen sowie sämtliche Räume der Jugendinitiative Sielwallhaus. Bei einer Pressekonferenz nahmen Mitabeiter des Hauses und des Anti-Rassismus-Büros Stellung.

Grundlage der Durchsuchung ist das vom Antirassismus-Büro herausgegebene Flugblatt, das am 10.1. anläßlich des Besuchs von Bundesinnenminister Kanther verteilt wurde (s. taz vom 17.1.). Im Flublatt heißt es: „Wenn es um Massendeportationen geht, sind Manfred Kanther und das von ihm geleitete Bundesinnenministerium wahre Spezialisten.“ Auch Innensenator Borttscheller wurde als „Schreibtischtäter“ bezeichnet. Er stellte Strafantrag wegen Verleumdung und übler Nachrede.

Am Mittwochmorgen stand die Polizei vor der Wohnung von Matthias M., Mitarbeiter des Anti-Rassismus-Büros. Sie durchsuchte die Räume und beschlagnahmte neben Schriftstücken, Telefonlisten und Broschüren den Computer eines Mitbewohners. Danach wurde Matthias M. auf der Polizeiwache ED-behandelt und vernommen. Er übergab der Polizei den Schlüssel zum Anti-Rassismus-Büro. Ihrer Forderung, alle Schlüssel des Sielwallhauses herauszugeben, konnte er nicht nachkommen, da er diese, wie er sagt, gar nicht besitzt.

Gleichzeitig wurde die Wohnung von Kai D., Unterzeichner des Flugblatts, durchsucht. Da er nicht zu hause war, wurde einem Mitbewohner der Beschluß präsentiert. In dieser WG beschlagnahmte die Polizei Telefonbücher, den PC samt Semesterarbeit eines Mitbewohners und private Briefe. Anschließend fuhren etwa 30 Beamte zum Sielwallhaus, in dem sich niemand befand. Sie brachen das Schloß der Hintertür auf und durchsuchten sämtliche Räume des Hauses – , obwohl der Beschluß nur die Räume des Anti-Rassismus-Büros betrifft, und die Polizei spätestens seit der Hausdurchsuchung im Zusammenhang mit dem 3. Oktober 94 weiß, daß im Haus unterschiedliche, voneinander völlig unabhängige Gruppen arbeiten. Im zweiten Stock bohrten die Beamten nochmals vier Schlösser auf. Im Raum der Computergruppe, die, mit Beiratsmitteln unterstützt, Computerkurse mit Jugendlichen durchführt, wurden sämtliche Geräte konfisziert, selbst Tastaturen, Mäuse und Modems. Auch in den Räumen einer Zeitungsinitiative wurden technische Geräte beschlagnahmt.

In das einen Stock tiefer gelegene Anti-Rassismus-Büro gelangten die Beamten mit B.'s Schlüssel. Hier wurden ebenfalls alle technischen Geräte abgezogen, Schriftstücke sowie einige Kartons mit der Broschüre „Polizisten, die zum Brechen reizen“. Wegen dieser Broschüre, die die zwangsweise Vergabe von Brechmitteln an vermeintliche Dealer thematisiert, erhielt das Anti-Rassismus-Büro im Mai einen Strafbefehl über 1.500 Mark wegen Volksverhetzung.

„Man überzieht uns mit solchen Verfahren, um uns mundtot zu machen“, vermutet Matthias B. Der Zweck liege allein der Einschüchterung. Ein Anwalt des Sielwallhauses hat die sofortige Herausgabe der beschlagnahmten Gegenstände und Einsicht in die Akten gefordert.

Jan Frischmuth, Leiter der Staatsanwaltschaft, verteidigt den Polizeinsatz. Bei „Gefahr im Verzuge“ dürfe die Polizei auch andere als die im Beschluß angegebene Räume durchsuchen. Auch die ED-Behandlung sei rechtmäßig. Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit sieht er gewahrt: Schließlich ging, so Frischmuth, „vom Flugblatt eine systematische Herabsetzung von Politikern aus.“ dah