Trügerische Selbstheilung

■ Der rechte Spuk geht nicht von selbst vorbei

Gerade drei Tage ist das her. Da dankte Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth beim Staatsbesuch des israelischen Präsidenten den Juden in Deutschland für ein Geschenk. Das Geschenk hieß Vertrauen. Vertrauen, zu bleiben, allen Greueltaten der Vergangenheit zum Trotz. Vertrauen in die Menschen, mit denen sie Tür an Tür wohnen, Vertrauen in die Demokratie des Landes, für das sie sich mit vielen Ambivalenzen entschieden haben.

Drei Tage sind vergangen, und aus dem selbstsicheren Ausrufezeichen ist ein Fragezeichen geworden. 9 Menschen wurden ermordet, verbrannt, mehr als 50 verletzt. Und wieder heißt der schreckliche Verdacht: Sie sollten sterben, weil sie als Fremde geächtet, als Andersartige nicht geduldet waren. Vertrauen in ein Land, in dem Feiglinge wieder zu Herrenmenschen wachsen, die sich anmaßen, über das Lebensrecht anderer zu bestimmen?

Die Morde von Lübeck verändern das Land nicht, von dem Rita Süssmuth sprach, sie verändern den Blick darauf. Sie führen vor Augen, was wir längst nicht mehr sehen wollten – weil es uns anwiderte, weil es uns hilflos machte, weil wir oft genug mit Kerzen in der Hand durch die Straßen getrottet waren, weil wir gehofft hatten, der rechte Spuk ginge von selbst vorbei.

Nur zu gern haben wir an die Entwarnungssignale geglaubt: Rückgang ausländerfeindlicher Straftaten um soundso viel Prozent, Abnahme rechtsradikaler Gewalt, meßbar in absoluten Zahlen. Dabei hätte jeder wissen können, daß die beschwichtigenden Statistiken vor allem Glückssache waren: rechtzeitig entdeckte Brandsätze, zufällig vorbeikommende Passanten, feuchte Witterungsbedingungen. Lübeck, sagt der Bürgermeister der Hansestadt, habe in der Nacht zum Donnerstag seine „größte Katastrophe“ erlebt. Die Bürgermeister der Städte mit den ungezählten Beinahe-Katastrophen mußten sich nie zu Wort melden.

Der Verdacht von Lübeck zerstört den Glauben an die Selbstheilungskraft des Augenschließens. Tatsächlich hat sich seit Solingen so gut wie nichts verändert – nicht die Ratlosigkeit im Umgang mit rechter Gewalt, nicht das Gift in den Köpfen, nicht die Schlagzeilen gegen Fremde.

Die wirklich einschneidende Veränderung gab es an anderer Stelle: bei der Verstümmelung des Asylrechts bis zur Unkenntlichkeit. Die Auseinandersetzung mit rechter Gewalt fängt nach Lübeck wieder am Nullpunkt von Mölln und Solingen an – und das macht sie noch hilfloser und verzweifelter, als sie ohnehin schon war. Vera Gaserow