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Nervenkrank durch Mangelernährung

Verwandte im Exil oder Hühner im Stall bieten den besten Schutz für die KubanerInnen  ■ Von Jens Holst

Das Geheimnis um die rätselhafte Augen- und Nervenkrankheit, die sich zwischen 1991 und 1993 epidemisch in Kuba ausbreitete, ist gelöst. Weder handelte es sich um eine neu aufgetretene Seuche noch um eine biologische Waffe des Klassenfeindes auf der anderen Seite der Meerenge von Florida. Vielmehr haben Wissenschaftler Mangelernährung und Zigarrenrauchen als Hauptschuldige für die Epidemie ausgemacht.

Im Sommer des Jahres 1993 nahm eine unbekannte Erkrankung in Kuba dramatische Formen an. Die betroffenen Menschen verloren ihre Sehfähigkeit, konnten keine Farben mehr erkennen, sahen von Tag zu Tag unschärfer. Einige erblindeten, ohne daß die Augen selber Veränderungen aufwiesen. Hinzu kamen Gefühlsstörungen in den Füßen und Beinen. Über 50.000 KubanerInnen waren von der Nervenkrankheit betroffen. Der Höhepunkt war im März 1993 erreicht, als bis zu 4.000 Fälle pro Woche auftraten.

Die Ärzteschaft stand der Epidemie zunächst ratlos gegenüber. Fieberhaft wurde nach einem Virus gesucht, das die Optikus-Neuritis auslösen könnte. Andere werteten die Erkrankung als Vergiftungserscheinung, je nach politischem Standpunkt hausgemacht oder aus den USA eingeschleppt. Oder durch selbstgebrannten Rum verursacht. Nicht nur kubanische MedizinerInnen bezweifelten die Theorie, es handele sich um die Folgen mangelhafter Ernährung. Guillermo Llanos, der Leiter der Ärztekommission der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation auf der Karibikinsel, verwies damals darauf, daß die Krankheit dann viel eher in den ärmsten Ländern wie Haiti, Nicaragua oder Bolivien hätte auftreten müssen.

Dennoch gab es damals in Kuba ausreichend Gründe für diese Annahme. Denn zwischen 1991 und 1993 erlebte die Karibikinsel die schlimmste Wirtschaftskrise seit 1959. Bedingt durch den Zusammenbruch der Ostblockstaaten und das Handelsembargo der USA, hatte sich die Lage auf der Zuckerinsel in dieser Zeit dramatisch verschlechtert. Die Versorgungskrise bestimmte in jenen drei Jahren das Leben der KubanerInnen und ist bis heute nicht überwunden. Sie mußten darben, der Speiseplan wurde von Monat zu Monat dürftiger.

Obwohl die kubanische Führung Ernährungsdefizite als Ursache der Neuritis-Epidemie ausschloß, reagierte der Staat schnell und effizient: Die 10,8 Millionen EinwohnerInnen des Landes erhielten ab Mai 1993 täglich eine Vitamintablette. Die einzig richtige Maßnahme, konstatierte kürzlich die angesehene Mediziner- Zeitschrift New England Journal of Medicine. Sie veröffentlichte eine Studie, die im Auftrag der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation von US-amerikanischen und kubanischen Ärzten gemeinsam angestellt worden war, um die Ursachen der Sehnervenerkrankung zu untersuchen. Auf wissenschaftlichem Gebiet wurde damit das US-Embargo gegen Kuba durchbrochen.

Neben augenärztlichen, neurologischen und Laboruntersuchungen legten die AutorInnen besonderes Augenmerk auf die Ernährungsgewohnheiten und Genußgifte. Ihnen fiel auf, daß KubanerInnen, die ausreichend tierische und Vitamin-B-haltige Nahrung zu sich nahmen, deutlich weniger von der Neuritis betroffen waren. Ein hoher Blutgehalt an Lycopene, einem Vitamin A-Vorläufer, der vor allem in Tomaten, Wassermelonen und anderem rotfarbenem Obst enthalten ist, verringerte die Gefahr der Erkrankung um das Zwanzigfache.

Für den Ausbruch der Neuritis- Epidemie war nach den vorliegenden Daten neben dem fehlenden Vitamin A hauptsächlich ein Mangel an B-Komplex-Vitaminen verantwortlich. Besonders dem Vitamin B 12 kam eine Schlüsselrolle bei der Nervenerkrankung zu. Die Bedeutung von selbstgebranntem Schnaps oder anderem Alkohol ist dagegen geringer als angenommen. Nur im Zusammenhang mit Ernährungsmängeln waren alkoholische Getränke an der Entstehung der Nervenschädigungen beteiligt. Eindrücklich läßt sich der Zusammenhang zwischen Neuritis und Mangelernährung durch die Erfolge der kubanischen Vitaminpillenaktion bestätigen. Das Sehvermögen der Erkrankten besserte sich innerhalb von Tagen oder Wochen allein durch eine reichhaltigere Kost und die Zufuhr von Vitaminen.

Die Studie erlaubt einen aufschlußreichen Einblick in die veränderten Lebensbedingungen der KubanerInnen. Von der Neuritis kaum gefährdet waren all jene, die selber Hühner oder andere Tiere hielten und ihren Speiseplan dadurch erweitern konnten. Noch besser geschützt waren allerdings die KubanerInnen, die Verwandte im Ausland hatten. Mit Hilfe der Dollars von Onkel, Tante oder Sohn in Miami können sich die Daheimgebliebenen mehr leisten als ihre Landsleute ohne familiäre Außenbeziehungen.

Versorgungsschwierigkeiten und Nahrungsmittelknappheit, so das vorläufige Fazit der Untersuchung, können als entscheidender Auslöser der Nervenerkrankung in Kuba angesehen werden. Herausgestellt wird noch ein weiterer wichtiger Risikofaktor: das Zigarrenrauchen. Nicht zufällig trat die Neuritis zuerst und am heftigsten in der Provinz Pinar del Rio auf, dem Kernland des kubanischen Tabakanbaus. Während Zigaretten das Risiko nicht nennenswert erhöhten, waren ZigarrenraucherInnen wesentlich stärker betroffen. KubanerInnen mit hoher Cotidin-Konzentration im Urin, einem zuverlässigen Maß für den Zigarrenkonsum, erkrankten zwölfmal häufiger als ihre Landsleute mit niedrigem Cotidin-Spiegel. Möglicherweise kommt dabei den im Rauch enthaltenen Zyaniden eine schädigende Wirkung auf die Sehnerven zu, was sich allerdings in Tierversuchen bisher nicht nachweisen ließ.

Solange aber die Versorgungsengpässe auf der Karibikinsel nicht überwunden sind, so läßt sich aus der Studie schließen, ist die Gefahr nicht gebannt. Einzelne Fälle wurden in den zurückliegenden Monaten erneut gemeldet. Neben der Antiraucherkampagne bietet die Verteilung von Vitamin-Pillen derzeit den einzigen Schutz vor einem Wiederaufleben der Epidemie.

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