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Im Gegefü versinken Von Andrea Böhm

Ich höre immer wieder, daß es in Deutschland eine wachsende Anzahl von Anhängern des Kommunitarismus gibt. Kommunitaristen sind Leute, die vor allem den Gemeinschaftsverlust in unseren Gesellschaften beklagen. Mir persönlich sind ja Gesellschaften lieber als Gemeinschaften. Aber wer wirklich einen Nachholbedarf an Gemeinschaftsgefühl hat, der muß sich nur während eines Blizzards in Washington einschneien lassen. Dann versinkt man nicht nur im Schnee, sondern auch im Gemeinschaftsgefühl.

Das Gegefü beginnt mit einem kollektiv anschwellenden – nein, nicht Bocksgesang – sondern Unmut. Zwei Tage bis zu den Hüften im Schnee zu versinken und beim Gassigehen mit dem Hund mit einem Metalldetektor nach Hydranten zu suchen, ist noch ganz witzig. Am dritten Tag fragt man sich a), wo das eigene Auto ist, und b), warum immer noch keine Straße geräumt, geschweige denn gestreut worden ist. Dieser Gemütszustand steigert sich zu Wut und heiligen Schwüren, im nächsten Jahr endlich einen Steuerboykott zu starten oder in die Suburb zu ziehen, wo die Straßen längst befahrbar sind. Dann kommt das Gegefü. Soll heißen: Die Nachbarn schließen sich zu einer Gemeinschaft mit Schneeschaufeln zusammen und buddeln sich selbst aus. Das funktioniert vor allem in Wohnstraßen besonders gut, weil nämlich jeder Passant, der auf dem nichtgeräumten Bürgersteig zu Fall kommt, den auf gleicher Höhe residierenden Mieter oder Hausbesitzer wegen Fahrlässigkeit, seelischer Grausamkeit, Fußgängerdiskriminierung, und was Amerikanern bei Zivilklagen sonst noch so einfällt, verklagen kann.

Für die öffentlichen Parks und Straßenecken wären eigentlich die städtischen Schneepflüge zuständig. Aber die – so erfahren wir nun, da der Jahrhundertschnee geschmolzen ist – standen in der städtischen Werkstatt. Immerhin machten sich die städtischen Schneepflugfahrer zu Fuß auf, um in Garagen nach alten Reifen zu suchen, mit denen sie die ausgefransten Schneepflüge wieder hätten flottmachen können. Die städtische Polizei konnte sich immerhin Panzerfahrzeuge bei der National Guard ausleihen, um Streife zu fahren. Bloß kann man mit Panzerfahrzeugen keinen Schnee räumen. Und die Feuerwehr konnte im Brandfall nicht löschen, weil sie keine Hydranten fand. Die Regierung mußte wieder mal schließen, woran sich die Leute aber schon gewöhnt hatten. Es wurden, zuverlässigen Quellen zufolge, zwei, drei oder fünf Schneepflüge gesichtet. Anwohner begüßten sie mit US- Fähnchen und 100-Dollar-Scheinen, um sie aufzuhalten und zum Räumen der Nebenstraßen zu bewegen.

Jetzt sagen Sie vielleicht, das sei alles Schnee von gestern. Stimmt aber nicht. Der Schnee von gestern hat sich in Wasser verwandelt, den Fluß übertreten lassen, in die ohnehin schon beklagenswert schlechten Straßen der US-Hauptstadt noch größere Schlaglöcher gerissen und den Müll freigelegt, der seit über zehn Tagen nicht mehr eingesammelt worden ist. Mit dem Schnee ist aber auch das Gegefü geschmolzen, weshalb der Müll noch mindestens so lange liegenbleiben wird, bis die alten Reifen von den Schneepflügen ab- und auf die Müllastwagen aufgezogen worden sind. Tja, so ist das Leben in der Hauptstadt von Amerika.

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