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Mit Euros gegen Sozialdumping

Gewerkschafter und Wissenschaftler fordern die Europäische Währungsunion. Neue Antworten auf den globalen „Wirtschaftskannibalismus“  ■ Von Florian Marten

Die neuzeitliche Wirtschaftskriegsflotte rückte mit verstärktem Bug und Hochleistungsdieseln an. Doch an Bord waren nicht ausgeflaggte Filipinos oder 50-Dollar- Offiziere aus China. Die Schlepper des holländischen Billigbugsierers Kotug unterbieten seit dem 1. Januar die Tarife des alteingesessenen Hamburger Schlepper-Kartells mit arbeitslosen holländischen Seeleuten aus Antwerpen. Die Holländer arbeiten erheblich länger und verdienen deutlich weniger als ihre von der ÖTV tariflich betreuten deutschen Kollegen.

Vor der Jugendstilvilla am beschaulich-noblen Leinpfadkanal im Norden Hamburgs parkt seit Wochen ein kleiner Austin-Kombi mit britischem Kennzeichen. Britische Wanderhandwerker verschönern hier – angeleitet von einer deutschen Architektin – ausgesprochen preiswert den Altersruhesitz eines Mainzer Arztpaares.

Wenn Norddeutschlands IG- Metall-Chef Frank Teichmüller ausruft „Wir haben bereits Weltwirtschaft!“ dann braucht er zum Beleg bloß aus dem Fenster zu zeigen. Teichmüller legt ein plastisches Beispiel nach: Ein 250-Mensch-Betrieb in der holsteinischen Provinz Uetersen beherrscht seit langem mit einigen oberitalienischen Konkurrenten ein Weltmarktsegment von Schiffbauzulieferern. Als Frühjahr 1995 die internationale Devisenspekulation die Lira an einem einzigen Tag um 39 Prozent gegenüber der Mark abwertete, so Teichmüller, hätten die Kollegen in Uetersen auf ihren Lohn komplett verzichten müssen, um diesen Wettbewerbsnachteil aufzufangen.

Die Forderung nach einem Erhalt der starken Mark sei offenkundig Blödsinn, weiß mittlerweile auch die DGB-Nordmark-Vorsitzende Karin Roth: „Wir brauchen eine große europäische Währungsunion. Mit der europäischen Währung kommt auch die europäische Lohn- und Tarifpolitik.“ Gegen die Globalisierung der Märkte – laut Karin Roth „ein globaler Wirtschaftskannibalismus, der Demokratie und sozialen Frieden gefährdet“ – könne man allerdings nicht, wie von einigen SPD- Wirtschaftsexperten behauptet, mit starker Mark, Abschiebung, geschlossenen Grenzen und Protektionismus ankämpfen.

Ziel müsse es sein, die Internationalisierung technischer und finanzwirtschaftlicher Standards endlich um soziale und arbeitsrechtliche Regelungen zu ergänzen. So könnte beispielsweise die Welthandelsorganisation WTO neben Vorgaben für Zahlungsziele, Zölle und Kreditzinsen auch etwas über Mindestbedingungen in Sachen Tarife und Arbeitsbedingungen in ihr umfangreiches Regelwerk aufnehmen. International mögen solche Forderungen utopisch erscheinen, zumindest in Europa aber sehen die Gewerkschafter echte Chancen. „Wir brauchen einheitliche soziale und tarifliche Mindeststandards in Europa und ein neues europäisches Grundgesetz nach der Formel ,Gleicher Lohn für gleiche Arbeit im gleichen Land‘“, so Karin Roth.

Roth setzt auf politische Sensibilität für diese Probleme bei der Weiterverhandlung der Maastricht-Verträge auf der EU-Regierungskonferenz am 29. März. „Allerdings“, so ihr Kollege Teichmüller mit einem Anflug von Realismus, „wenn es uns nicht gelingt, für diese Ziele mehr als bloß die Gewerkschaften zu mobilisieren, werden wir keinen Erfolg haben.“

Teichmüller hofft deshalb auf einen neuen Sachzwang: „Ökonomisch funktioniert die platte Ökonomisierung der Wirtschaft auf Dauer nicht.“ Der Philosoph Gernot Erler hat kürzlich erklärt, warum: Das System des grenzenlosen Weltmarktes werde eher früher als später gegen die Wand fahren, weil es die Verteilungsungerechtigkeit zwischen armen und reichen Gesellschaften und innerhalb der reichen Gesellschaften verschärft. Dabei bleibe „schließlich die ökonomische Rationalität auf der Strecke: Wenn die Explosion der Produktivität in Verbindung mit der kontinuierlichen Entwertung menschlicher Arbeit zu einem Kollaps der Kapitalverwertung führt mit dem Ergebnis: Wohlstand für niemand.“

FDP-Wirtschaftsexperte Otto Graf Lambsdorff unterfütterte diese Woche im Spiegel Erlers Thesen mit einem glaubwürdigen Versprechen: „Alle sollten sich darauf einstellen, reale Einkommensverluste hinzunehmen.“ Erler prophezeit: „Der Schrei nach Politik wird gewaltig sein, wenn der Crash der Weltökonomie losgeht, die jetzt so blendend ohne Politik auskommt.“

Teichmüller und Roth glauben, einen Voraushall dieses Urschreis bereits vernommen zu haben: Bei den französischen Streiks und der überraschend breiten deutschen Zustimmung zum „Bündnis für Arbeit“.

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