„Das ist der 37. Frieden“

Saban, Emina, Alma und Amela werden als Kriegsflüchtlinge in Zittau geduldet. In ihrem Haus in Banja Luka leben Serben. „Wohin sollen wir zurückkehren? Wir wären auch in Bosnien nur Flüchtlinge.“  ■ Von Detlef Krell

Als Emina D. sah, wo sie wohnen sollten, mußte sie weinen. Elende Baracken, Stoppelrasen und Stacheldraht. „Ich dachte, wir werden in ein Lager gesteckt, das wir nicht mehr verlassen dürfen.“ Ankunft in Deutschland. Nach der Flucht aus Bosnien wohnt die vierköpfige Familie seit einem Jahr in der Asylbewerberunterkunft von Zittau. Daheim in Banja Luka, im eigenen Haus, haben sich Serben eingerichtet.

Bis zum 31. März werden die 100 bosnischen Flüchtlinge in Zittau „geduldet“. Auf ihrer heutigen Konferenz werden die Innenminister der Bundesländer einen Drei- Stufen-Plan beschließen, wonach ab 1. Juli 1997 Familien mit minderjährigen Kindern, 200.000 Menschen, „zurückgeführt“ werden sollen. „Zurück, wohin?“ fragt Emina. „Wir wären auch in Bosnien nur Flüchtlinge!“

Das Barackengeviert liegt am äußersten Stadtrand. Nebenan erhebt sich der Nachwende-Protzbau des Landratsamtes; auch bis zum Supermarkt ist es nicht weit. Über den Stacheldraht hinweg bietet sich eine malerische Sicht auf das nahe Zittauer Gebirge. In der Spanplattenbude am Gittertor kippen zwei Wachmänner ihr Büchsenbier. Wortlos und ohne Quittung nehmen sie dem Besucher den Paß ab.

Stumm flimmert der Fernseher im einzigen Zimmer der Familie. Aus den Nachbarwohnungen dröhnt Musik. Tochter Alma kennt die Klänge: albanische Folklore von links, türkische von rechts. Es soll nicht lange dauern, dann mixen sich auch noch vietnamesische Rhythmen in den internationalen Cocktail. Alma ist 16, sie lernt in der 9. Klasse einer Zittauer Mittelschule, ihre zwölfjährige Schwester Amela in der 5. Klasse des Gymnasiums. Dieser Lärm hier, erzählen sie, raube ihnen die Ruhe für die Schularbeiten und Nacht für Nacht den Schlaf. Alma und Amela sprechen fließend Deutsch, sie sind die Dolmetscherinnen ihrer Eltern.

Familienvater Saban ist gehbehindert, seine Krücken stehen hinter dem Bett. Der Arzt habe ihm geraten, mit dem kranken Bein nicht in die Kälte zu gehen. Doch Saban muß immer wieder hinaus in den Frost, quer über den Hof bis zum Waschraum. In Banja Luka hatte er als Fräser gearbeitet, seine Arbeitsstelle habe man ihm, als Bosnier, gekündigt; dann mußte er sich lange verstecken, um der Rekrutierung durch das serbische Militär zu entgehen. Hier in Deutschland sei er zum Nichtstun verdammt. Doch beklagen will er sich nicht: Hier habe die Familie ein Dach über dem Kopf und Essen. Hier fallen keine Granaten. Emina berichtet von ihrer Schwester, die in einem Dorf bei Banja Luka lebe; sie sei verletzt und brauche Medikamente. Man habe versucht, sie nach Deutschland zu holen, doch die sächsischen Behörden hätten abgelehnt, sie in das bei weitem nicht ausgenutzte „Kontingent“ der Kriegsflüchtlinge aufzunehmen: Nur für „Verwandte ersten Grades“ bekämen sie eine „Duldung“. „Duldung“ spricht Emina auf deutsch.

Saban schaltet das Fernsehgerät auf die Nachrichtensendung des kroatischen Kanals, einer der wenigen Drähte nach Hause. Auch die beiden Teenager verfolgen ernst die Nachrichten. Keine Bilder des Friedens werden aus der Heimat gesendet, keine Meldungen, die Mut machen könnten, wieder dorthin zurückzukehren.

Vor dem Fernseher sitzt auch Salkuna D., doch sie bringt es nicht fertig, sich diese Bilder anzusehen. Mit vier Kindern war ihr die Flucht aus einem Dorf bei Srebrenica gelungen. Von ihrem Mann weiß sie nur, daß er in ein serbisches Internierungslager gebracht wurde; im Juli erhielt sie die letzte Nachricht von ihm. Auch ihre vier Brüder sind irgendwo im Kriegsgebiet verschollen. „Wie soll ich jemals verzeihen, daß ich meine Familie verloren habe? Wo soll ich hin in Bosnien, mit meinen Kindern?“

„Jeder, der vom Verzeihen und Rückkehren redet“, bittet Alma mit dem Ernst einer Erwachsenen, „sollte immer bedenken, was wir alles durchgemacht haben.“ In kargen Worten erzählt sie von der 13jährigen Freundin, die in einem Militärlager vergewaltigt wurde, von den Betonierung bosnischer Friedhöfe, von den Häusern im bosnischen Teil des Landes, die von abziehenden Serben in Brand gesteckt werden. „Dayton“, seufzt Almas Vater, „ist der 37. Frieden. Wie soll ich dem vertrauen?“ Die Politiker, meint er, hätten nie ein Problem damit, Papiere zu unterschreiben, aber ganz anders zu handeln. Er zeigt auf die Fernsehbilder aus Sarajevo und Mostar, auf Serbenführer Karadžić, den er mit Hitler vergleicht: „Zehn Jahre wird es dauern, bis wir Bosnier wieder normal leben können.“