Ein Hundekadaver, der kunstvoll vergeht

■ Literaturhaus: Der Büchner-Preisträger Durs Grünbein kam, las und sprachsezierte

In seinen Prosatexten Taxien zeichnet der Lyriker Durs Grünbein ein Stilleben: eine Szene aus früher Kindheit, mit umgekipptem Lastwagen, Zersplittertem und Zersprengtem, Leichenbündeln, über allem eine merkwürdige Ruhe. Er wußte nicht, was es bedeutete, aber er „spürte schon damals, daß hier das geheime Zentrum lag“, und hörte den Rest des Tages die Worte „menschliches Versagen“.

An jenem Tag muß Grünbein seinen Sinn gewärtigt haben für die Sinnlosigkeit der Existenz, die er wieder und wieder in seinen Gedichten am Tod und seinen Überresten beschwört und aus denen er am Donnerstag im übervollen Literaturhaus las. Die drei Reisegedichte In der Provinz etwa. Das erste, „Normandie“, das ist ein Hundekadaver, der kunstvoll am Bahndamm zwischen Gras vergeht; „Auf Gotland“ rekonstruiert Grünbein aus Pfoten und Knochen, wie ein Raubvogel den Hasen schlug („unbequem muß dieser Tod gewesen sein auf winterlicher Erde“). In der „Campagna“ fragt er sich angesichts eines plattgefahrenen Frosches: „Durch welche Öffnung entweicht der Traum?“

Andere Gedichte widmen sich der menschlichen Anatomie, den Ekligkeiten medizinischer Schaukonserven – Anenzephale, Wolfsrachen, Körperteile in Formaldehyd – und großem Sprachempfinden. In „Nach den Satiren“ betrachtet er sein vergangenes Selbst, die erstmaligen Wahrnehmungen seiner Kindheit im unaufhaltsamen Zeitfluß vom Alleinsein bis zur ersten Ejakulation, verwundert als Fremden: „Was hast du gedacht?“

Ist dies nur aparte Vokabelmischung, fragte der Rostocker Literaturgelehrte Helmuth Lethen einführend, um sich zu antworten: auch. Doch das von den Eltern vererbte naturwissenschaftliche Interesse Grünbeins offenbare mehr. Hinter der semantischen Ordnung seiner Lyrik zeige sich die anatomische. Die Kälte dieser Sicht sei nichts weniger als ein Moment der Poetologie; im ausgehenden 20. Jahrhundert bahne sich die Stimme des Sehenden eben „ihren Weg durch Gehirnhelligkeit“.

Von den unbewegten zu den bewegten Leibern ist es für Grünbein so nur ein kleiner Schritt – er tritt der Schule der Behavioristen bei, deren Verzicht auf Seele ihm zur Erklärung der Wirklichkeit dienlicher erscheint als die Psychoanalyse. Pawlow und Bechterev seien ihm näher als Freud, dessen Lehre übrigens wenig geeignet sei, die Herrschaftsstrukturen sozialistischer Diktaturen zu beschreiben. Ein Gedicht aus der Reihe Mensch ohne Großhirn handelt von einem authentischen Joe, der nach gelungener Selbsttrepanation ausruft: „Ich ein bedingter Reflex!“ In den Taxien erklärt Grünbein den Waffenstillstand zwischen Haustier und Herrn mit Reibung (sie könnte mich beißen, ich sie tottreten).

Klug fragte ein Zuhörer nach all dem Sezieren, ob Grünbein je erwogen hätte, wie Benn ein „geteiltes Leben“ zu führen: Wissenschaft und Poesie zu trennen. Dem Büchner-Preisträger entging die Ironie der Frage, er meinte aber, Benn sei zu beneiden.

Eine Kritikerin wurde deutlicher: Ihr fehle das poetische Moment in seiner Lyrik, die „Schnittstelle von Begebenheit und Empfinden“. Grünbein sprach von der Universalwissenschaft Novalis' und den Widrigkeiten jeglicher öffentlicher Lesung.

So konnte er den Eindruck nicht entkräften, oft in der wortreichen, verführerischen Analyse zu verharren, der routinierten Wiedererzeugung der Schauplätze von Zerstückelung und Verwesung der Kreatur. Von diesen Schöpfungen bleibt er beeindruckt, aber starr, in seltsamer Verantwortungslosigkeit für eine Synthese und mogelt sich unpersönlich um den Kern der Erfahrung, weil es ihm genügt, dort nichts zu vermuten.

Hilmar Schulz