Was ist aus Doni geworden?

Lübeck nach dem Brandanschlag: Bürgermeister Bouteiller will die Flüchtlinge integrieren, die CDU pocht auf Paragraphen, die BürgerInnen sorgen sich um die Brandopfer und wollen ihre Ruhe wiederhaben. Lübecker Szenen  ■ von Jan Feddersen und Bascha Mika

Der kleine Maradona

Der Imbiß hat keinen Namen und liegt in einem verlorenen Stück Stadt. Hier rasen die Autos mit siebzig Stundenkilometern vorbei. Um die Bude herum kahle Flächen, Hafenanlagen. Seit sechzehn Jahren versorgt Rolf Muschke seine Kundschaft mit Fritten und Currywurst. Lagerarbeiter, LKW-Fahrer. Und Arbeitslose. Männer, die es an die Trave zieht, weil sie hier früher mal einen Job hatten. Einige Gäste fehlen. Doni zum Beispiel. Bis zum vergangenen Donnerstag wohnte der Junge hundert Meter weiter – im Flüchtlingsheim, Neue Hafenstraße 52. Das Haus ist verbrannt, die Bewohner tot oder verletzt; wer nicht mehr im Krankenhaus liegt, ist irgendwo in der Stadt untergeschlüpft. Muschke sagt: „Die fehlen mir echt.“ Und Marianne Klink, hinterm Tresen zuständig für die Mikrowelle, erzählt: „Wie oft war der Kleine hier. Sah aus wie ein kleiner Maradona.“ Muschke: „Wenn es nach mir ginge, sollen die alle wieder herziehen, aber in normale Wohnungen.“ Klink: „Was ist eigentlich aus Doni geworden? Lebt der denn noch?“

Das Ordnungsamt

Reinhard Rocksien ist Sachgebietsleiter in der Ausländermeldestelle im Ordnungsamt der Hansestadt Lübeck, zuständig für Ausweisungen, Asylangelegenheiten und Abschiebungen. In seinem Büro im zweiten Stock der Julius- Leber-Straße liegen die Akten der Brandopfer. Wer von Rocksien wissen will, ob Lübeck seine Asylbewerber besser integrieren sollte, erfährt nur dies: „Ich sage nichts.“ Die Angestellten in den Lübecker Behörden sollen schweigen, so wollen es ihre Vorgesetzten. Doch Rocksiens Chefin, Innensenatorin Dagmar Pohl-Laukamp, hat ein dringendes Sprechbedürfnis. Einen Pressetermin zu einem neuen Verkehrskonzept bricht sie ab. Wie sie so im Hausflur ihrer Behörde steht, liegt ihr Wichtigeres am Herzen – die Asylbewerber. Die Christdemokratin im Pelzmantel argumentiert gegen die soziale Kälte. „Wir haben den Lübecker Flüchtlingen in vielen Einzelfällen sehr unbürokratisch geholfen.“ Darüber hinaus ist sie gar nicht einverstanden mit Bürgermeister Michael Bouteiller, SPD. Milde, doch entschieden, rügt sie. daß er zum zivilen Ungehorsam aufgerufen hat, wenn die Überlebenden der Brandkatastrophe abgeschoben werden sollten. „Die Grundlinien des Rechts darf man nicht zerstören. Das würde die Behördenmitarbeiter irritieren und Chaos erzeugen.“ Als herzlose Bürokratin möchte sie allerdings nicht mißverstanden werden. „Es gibt Recht und Gesetz, aber daneben muß man versuchen, menschlich zu sein.“

Auch bei Jean-Claude und Françoise Makudila? Seit sechs Jahren lebten das schwarzafrikanische Paar und seine sechs Kinder in Deutschland; jahrelang hat die Familie versucht, aus der Sammelunterkunft in der Neuen Hafenstraße in eine Wohnung zu ziehen. Makudila bat beim Ordnungsamt um Erlaubnis, mehrmals. Atteste legte er vor; zwei seiner Kinder litten an Neurodermitis – auch wegen der zermürbenden Lebensverhältnisse. Vergebens. Pohl-Laukamp, knapp: „Die Familie Makudila ist doch geduldet. Die hätten keine Erlaubnis von uns gebraucht, die hätten jederzeit umziehen dürfen.“ Die Senatorin weiß leider nicht Bescheid. Makudilas haben sich noch im Asylverfahren befunden. Das Ordnungsamt hätte ihnen trotzdem eine Privatwohnung zugestehen können, soviel Spielraum bieten die Gesetze: Hat es aber nicht. Rechtsanwältin Helga Mende, sarkastisch: „Die hatten beim Ordnungsamt keine Chance.“ Inzwischen brauchen Makudilas keine große Wohnung mehr. Françoise Makudila, genannt Landu, und ihre Kinder sind verbrannt. Senatorin Pohl-Laukamp gilt in ihrer Partei keineswegs als Hardlinerin. Doch ein Bleiberecht für Flüchtlinge, wie es Bürgermeister Bouteiller fordert, lehnt sie selbstverständlich ab. „Kein Sonderrecht für Lübeck!“ Seit Donnerstag morgen weiß sie, daß der Bürgermeister ihr die Zuständigkeit für die vierunddreißig überlebenden Brandopfer entzogen hat. Es klingt bedauernd, wenn sie sagt: „Das darf er nach der Gemeindeordnung.“ Und während sie im Hausflur des Ordnungsamtes steht und über die nächste sanfte Belehrung nachdenkt, kommen zwei Mitarbeiter die Treppe herunter. Schwer mit Akten bepackt. Unter ihnen Sachgebietsleiter Reinhard Rocksien. Ein kurzer Gruß, dann Rocksien, ein wenig eingeschnappt: „Wir sind auf dem Weg zum Bürgermeister. Sie wissen schon, wegen der Unterlagen über die Bewohner der Neuen Hafenstraße.“ Frau Senatorin nickt. Rocksien: „Wollen Sie nicht mitkommen?“

Der Bürgermeister

Michael Bouteiller liebt das Gespräch. Akten zu durchkämmen, das sagen auch seine politischen Freunde, ist ihm im Grunde lästig. Nicht viele vom örtlichen Establishment mögen den Bürgermeister: Runde Tische in Lübeck, wann hat es das je gegeben? Lübeck, sagt Bouteiller, das ist „Untertanengeist“, doch auch „hanseatische Offenheit“.

Er selbst ist Zugereister und hat sich noch nicht gänzlich integrieren lassen. Spricht der Bürgermeister von „Kleingeistigkeit“, ist ihm der Widerwille auch körperlich anzusehen. So verkündet er drohend: „Ich bin die Stadt.“ Der Brandanschlag ist ein „Fanal“, sagt Bouteiller. Er will es nutzen, das treibt ihn an. Sammelunterkünfte auflösen! Bleiberecht für alle Flüchtlinge, die vor der Änderung des Asylrechts in die Bundesrepublik kamen! Integration! Für diese Mission und Vision nimmt er sich viel Zeit, auch heute wieder. Und so lehnt er sich zwischen zwei Terminen erst mal im Sessel zurück, um richtig auszuholen. „Ich glaube, daß es gelingen könnte; es ist auch eine Frage des persönlichen Einsatzes.“ Ginge es nach der CDU, kostet ihn das Wühlen in der asylgestreßten deutschen Seele sein politisches Amt. „Ich fürchte mich nicht“, sagt Bouteiller kühl, „es ist mir wurscht, was die Folgen sind. Darüber kann man ja später rechten.“ Die Täterfrage interessiert ihn nicht: „Das ist Sache der Polizei.“ Die Asyldebatte in Lübeck neu zu beginnen böte sich geradezu an. „Nicht nur Willy Brandt kommt von hier, sondern auch Björn Engholm.“ Der habe 1993 als SPD- Vorsitzender den Grundgesetzartikel zum Asylrecht verkauft, „ohne das Pfand, ein Einwanderungsgesetz, in der Hand zu behalten“, sagt Bouteiller mit leisem Abscheu. Seit Tagen konferiert der Bürgermeister mit dem Sprecher der Afrikanischen Gemeinde zu Lübeck, Baca Gadij. Sie sind längst per du. Gemeinsam mit Wohnungsbaugesellschaften, dem Diakonischen Werk und privaten Vermietern haben sie Wohnungen für die Brandopfer beschafft. „Das ist das mindeste, was von uns verlangt werden kann.“

Der Kindergarten

Die Außenmauern des Hauses sind bereits hochgezogen, eingebaut die Dusche, auch das Klo, dessen rosa Deckel sich sogar aufklappen läßt. Jetzt basteln Chris, Jan-Helge und Mustapha an der Küche ihres Lego-Hauses herum. Der eine Junge ist schwarz, der zweite weiß, der dritte braun. Im Lübecker Stadtteil St. Gertrud, dem Asylheim in der Rabenstraße gleich nebendran, liegt die Janusz- Korczak-Kindertagesstätte. Ein Experiment in Sachen Integration, angestiftet vom Diakonischen Werk nach dem Debakel von Hoyerswerda. „Ich lege großen Wert darauf, daß wir eine normale Kindertagesstätte sind“, weist Leiterin Susanne Landgraf falsche Erwartungen zurück. Dreißig Kinder bis zum sechsten Lebensjahr besuchen den Hort Tag für Tag. Ein Junge fehlt. Der fünfjährige Legrand. Die Kinder wissen, daß er nicht wiederkommen wird. Vor einigen Tagen haben sie Abschied von ihm gefeiert. Legrand Makudila ist in der Neuen Hafenstraße verbrannt. Die Tagesstätte hat zwei Wartelisten. Eine für die Kinder aus den Flüchtlingsheimen, die zweite für weiße Deutsche. Anfangs gab es im Stadtteil Vorbehalte, inzwischen reißen die deutschen Eltern sich um die Plätze. „Gleich welche Hautfarbe, die Kinder spielen sofort miteinander. Nur sich zu berühren haben sie anfangs ein bißchen Scheu“, erzählt Leiterin Landgraf. Sie macht sich jedoch nichts vor. „Integration muß wachsen, nur im Kindergarten gelingt sie immer.“ In der Schule ist es schon anders. Stefan Labitzky betreut Flüchtlingsfamilien. Er hockt in seinem winzigen Büro in der Schwedenkirche, einem Asylheim nahe des abgebrannten Hauses. Der Diakon weiß, daß die Reibereien bei älteren Kindern erst richtig losgehen, „vor allem wenn sie nicht gewohnt sind, mit anderen Kulturen selbstverständlich umzugehen“. Schulkinder übernehmen die Haltung ihrer Umgebung – und deren Vorurteile und Ressentiments. „Oft genug kommt eines der schwarzen Mädchen heulend nach Hause, weil sie sich wieder mit den anderen Kindern geprügelt hat.“ Labitzky plädiert sehr dafür, die Sammelunterkünfte aufzulösen. „In den Heimen ist es beengt und laut, die deutschen Kinder kommen selten zu Besuch.“ Eine dezentrale Betreuung der Familien wäre aufwendiger, „aber es würde sich lohnen“. An einem läßt der Sozialarbeiter allerdings keinen Zweifel: Integration muß von beiden Seiten gewollt sein.

Das Volk

In den Lübecker Nachrichten steht von Dr. med. W. Sigge ein Leserbrief: „Was können wir sofort tun? Asylanten und ,Ausländer‘ nur noch dezentriert unterbringen. Unsere Bürger sind der einzige Schutzschild für unsere zugewanderten Gäste und Mitbürger.“ Torsten Wolke, Kraftfahrzeugmechaniker und arbeitslos, versteht sich als „Mann von der Straße“. „Die Reichen haben ja immer gut reden von Asyl. Aber warum müssen die Asylanten immer nur dahin, wo die normalen Leute wohnen? Soll doch mal der Bürgermeister bei sich welche aufnehmen.“ Wolke beschäftigt die Brandkatastrophe sehr. „Schrecklich, ich mag mir gar nicht vorstellen, wie das wäre, wenn ich da drin gewesen wäre.“ Eine türkische Familie hat er als Nachbarn. Er sagt: „Ich hab' ja nix gegen Ausländer. Gibt so 'ne und so 'ne.“ Integration – ja, klare Sache, aber „nich alle, ich meine, so viel Arbeit haben wir doch gar nich mehr.“

In der Altstadtkneipe „Drei Bären“ sitzen drei Männer beim Bier. Der erste sagt: „Eine Stadt, die pleite ist und 150.000 Mark für die Überführung der Toten nach Afrika zahlen will, das geht nich an.“ Der zweite findet: „Man ist ja bereit, Zugeständnisse zu machen. Ich würde auf Lohnerhöhung verzichten, auch für Asylanten. Aber man darf bei uns Deutschen die Daumenschrauben nich noch weiter anziehen.“ Und der dritte: „Wir können nicht immer büßen für unsere Vergangenheit, auch wenn wir in gewissen Situationen nicht ganz korrekt gehandelt haben.“ Die „Holstenkate“ in der Innenstadt gehört einem Türken. Er lebt mehr als zwanzig Jahre im Land. Sein Sohn Messud, neunzehn Jahre, arbeitet als Verkäufer. Dieser Lübecker sagt: „Es ist vielleicht nicht ganz in Ordnung, jeden Asylbewerber reinzulassen. Wir leiden darunter.“

Die Diakonie

Iwer Rinsche, Leiter der Lübecker Diakonie, hat breite Schultern. Auf ihnen trägt er „die Schuld, die wir uns aufgeladen haben, als wir uns nicht genug um unsere neuen Mitbewohner gekümmert haben“. Eigentlich ist der Pastor ein ruhiger Vertreter. Jetzt jedoch klingt er fast jesuanisch, ja radikal, wenn er verkündet: „An dieser Stelle werden wir aus unserer betreuenden Distanz heraustreten.“ Allen Brandopfern hat er für das Ende der vergangenen Woche eine neue Wohnung versprochen, den Bewohnern der Schwedenkirche für die Woche darauf. Hat er noch Tage nach der Katastrophe gemeckert, daß eine dezentrale Unterbringung der Diakonie nur höhere Benzin- und Verwaltungskosten bescheren würde, sagt er nun: „Gnade uns Gott, wenn wir um der Opfer willen das jetzt nicht hinkriegen.“

Die Bürgerschaft

Donnerstag im Sitzungssaal der Lübecker Bürgerschaft. Wenn die Versammlung nicht tagt, ist der Raum ein Museum. Die CDU will Bürgermeister Michael Bouteiller abstrafen lassen, weil er „in unverantwortlicher Weise öffentlich Emotionen geschürt“ habe. Die SPD kann dies nicht zulassen, die SPD will das nicht zulassen. Im Ältestenrat einigt man sich vor der Sitzung darauf, den CDU-Antrag nicht zu behandeln. Waffenstillstand, bis die Toten begraben sind. Nur die Grünen halten sich nicht daran. Sie fürchten, daß die Sozialdemokraten ihren Bürgermeister nicht genug stützen. Sie irren. Erstmals seit Jahren steht die SPD geschlossen hinter Bouteiller. Am Redepult spricht die Grüne Antje Jansen von „Heuchelei“ und „daß man nichts unter den Teppich kehren“ dürfe. So fühlen sich Sozial- und Christdemokraten gemeinsam düpiert und verlassen den Saal. Die Bürgerschaftssitzung löst sich nach nicht einmal zehn Minuten auf. Das ist etwas ganz Neues in der Lübecker Geschichte.

Der Imbiß

Was ist nun eigentlich aus dem Doni geworden, der im Imbiß an der Hafenstraße – dort wo die arbeitslosen Männer stehen – gelegentlich eine Tüte Pommes frites abgestaubt hat? Doni Alias hat den Brand überlebt. Er soll mal wieder bei Marianne Klink vorbeikucken.