Press-Schlag
: Schande über sie!

■ Medaillenlos und herb geschmäht: die Eiskunstläuferin Tanja Szewczenko

Boris Becker hat die Australian Open gewonnen – das ist in Ordnung. Anke Huber war in Melbourne im Finale – geht gerade noch. Tanja Szewczenko kam bei den Eiskunstlauf-Europameisterschaften in Sofia auf den fünften Platz. Schande über sie! Fünfte! Das war sie schließlich vor zwei Jahren schon. Stagnation, Fäulnis, Verrat, schallt es empört aus Funktionärs- und Medienkreisen. „Sie kann sich nicht quälen“, rügt Peter Krick, Sportdirektor der Deutschen Eislauf-Union (DEU), und erhebt gegen die 18jährige den schlimmsten Vorwurf, den man einer sporttreibenden Person deutscher Provenienz machen kann: Konditionsmängel. Der mit Werbeverträgen eingedeckten Szewczenko gehe es einfach zu gut, ist der allgemeine Tenor, und ein Agentur-Journalist entblödet sich – wenige Wochen nach dem Fajfr-Prozeß – nicht, ihrem Trainer Peter Jonas eine „zu milde Hand“ vorzuwerfen. Und dann wird sie auch noch frech! Wagt es, mit ihrer Leistung zufrieden zu sein, schimpft auf Preisrichter und stickige Luft in der Halle, führt ihre durch Krankheit beeinträchtige Vorbereitung an, und mag einfach nicht einsehen, daß sie uns alle – Verband, Journalisten, Volk – nur schnöde im Stich gelassen hat.

In diesem Jahr gibt es im Eiskunstlaufen erstmals Preisgelder zu verdienen, und die DEU fühlt sich offenbar berufen, den Vorreiter einer rigorosen Leistungsethik zu spielen. Wer Kohle will, soll gefälligst ackern bis zum Umfallen. Das hängt natürlich auch mit dem neuen Förderkonzept im deutschen Sport zusammen, das finanzielle Zuwendungen für die Verbände streng an vordere Plätze bei internationalen Wettbewerben koppelt und einem maßlosen Ehrgeiz der Funktionäre Vorschub leistet. Wer nicht spurt, fliegt raus.

Dumm nur, daß es in einer extrem trainingsintensiven Sportart wie dem Eiskunstlaufen nicht leicht ist, Talente zu finden, die bereit sind, Schule und Berufsausbildung zu vernachlässigen und ihren gesamten Lebenswandel einzig auf den Sport abzustimmen, mit der vagen Aussicht, irgendwann einmal so gut zu werden, daß sie statt magerer Sporthilfe fette Preis- und Werbegelder kassieren können. Um so schlimmer, wenn diejenigen, die es tun, dann immer noch nicht gewinnen. Da kann es nur heißen: Mehr arbeiten! Geradezu begeistert wird deshalb von den „hungrigen“ russischen Läuferinnen und Läufern geschwärmt, die, wie die 16jährige Goldmedaillengewinnerin Irina Slutskaja, mit ihren Eltern in einer Einzimmerwohnung hausen. Bei solchen Vorbildern ist es kein Wunder, daß eine Tanja Szewczenko, die eine halbe Million Mark im Jahr verdient, auf Abscheu stößt. Vor allem, wenn sie Konditionsprobleme hat.

Vor der EM hatte das allerdings noch ganz anders geklungen. Da wurden rührselige Geschichten über Szewczenkos verkorkste letzte Saison aufgetischt, über das verletzungsbedingte Ausscheiden bei der WM 1995, den Trainerwechsel, den Umzug nach Oberstdorf, das erneut durch Krankheiten beeinträchtigte Sommertraining, das gewisse Konditionsmängel durchaus erklärt. „Wenn du im Sommer nicht die Grundkondition draufhast, bekommst du im Winter Probleme“, weiß auch Peter Krick. Entsprechend der bisherige Saisonverlauf. Bei der Deutschen Meisterschaft in Berlin verpatzte Szewczenko das Kurzprogramm, bewies aber mit einer guten Kür, daß sie nach wie vor weit über allen nationalen Konkurrentinnen steht, und wurde zweite hinter Astrid Hochstetter. In Sofia lag sie nach dem Kurzprogramm noch, leicht unterbewertet, auf Rang drei, bei der Kür probierte sie immerhin sieben Dreifachsprünge, die teilweise etwas wacklig ausfielen, und rutschte auf Platz fünf.

Ganz ordentlich, sollte man meinen. Das Kurzprogramm von Sofia, die – etwas angereicherte – Kür von Berlin, ein wenig mehr Wohlwollen der Preisrichter, und ein dritter Platz bei der WM im März in Edmonton wäre nur leicht utopisch. Aber den hat Tanja Szewczenko ja 1994 schon geschafft. Stagnation, Fäulnis, Verrat! Matti Lieske