Klarsichthüllen-Vertreter übt Nachsicht

Wenige Freunde, viele Bekannte und keine Feinde. Der Pflichtmensch, Oberlehrer und Verantwortungsethiker Hans-Jochen Vogel hat eine Bilanz seiner Berliner und Bonner Jahre gezogen. Eine hochspannende Lektüre meint  ■ Ludwig Watzal

„Ich bin mit mir im reinen.“ Es gibt nur wenige Politiker, die dies nach einem langen Politikerleben von sich sagen können. Hans-Jochen Vogel paßte von Herkunft und geistiger Ausrichtung so gar nicht in die Nachkriegs-SPD. Aus einer bürgerlich-bayerischen Beamtenfamilie stammend und praktizierender Katholik, war er alles andere als der klassenkämpferische Proletarier, der in der SPD seine Heimat hatte.

Daß dieser Typus es trotzdem zu höchsten Ehren in der SPD bringen konnte, zeigt, welchen Wandlungen auch diese Partei unterworfen ist. Am Ende seiner Zeit wirkte er im Vergleich zu den hedonistischen „Enkeln“ wie ein Anachronismus. Denn seine Vorstellungen von Solidarität, Disziplin, Pflichtbewußtsein, Pünktlichkeit, Loyalität und Gerechtigkeit sind in der Enkel-SPD nur noch rudimentär vorhanden, oder man diffamiert sie als Sekundärtugenden, mit denen auch ein KZ geleitet werden könne. Der diese Einschätzung einmal auf Bundeskanzler Helmut Schmidt münzte, ist kein Geringerer als der derzeitige SPD- Vorsitzende.

Vogel ist fest davon überzeugt, daß ohne diese Sekundärtugenden ein „Gemeinwesen“ und die SPD nicht auf Dauer zusammengehalten werden können. Eine Säule seines geistigen Fundaments ist der katholische Glaube, insbesondere die christliche Soziallehre. Begriffe wie Gemeinwesen, Subsidiarität, Solidarität, Gerechtigkeit und Menschenwürde werden bei ihm durch das Bewußtsein von der „Vorstellung und der Existenz eines persönlichen Gottes und der Gottebenbildlichkeit jedes einzelnen Menschen“ bestimmt. Natürlich hat er auch aus den geistigen Wurzeln der Sozialdemokratie Kraft geschöpft und gelebt. Er ist die Personifizierung eines Pflicht- und Verantwortungs-Menschen.

Als der Piper Verlag vor zehn Tagen zur Präsentation des Vogel- Buches ins Wissenschaftszentrum in Bonn einlud, kamen „alle“. Kein Geringerer als Altbundespräsident Richard von Weizsäcker hielt die Laudatio; das Buch sei ein „Leckerbissen“.

Wenn von Weizsäcker irgendwo auftritt, ist klar, daß Bundeskanzler Helmut Kohl nicht erscheint, obwohl ihm Vogel über alle parteipolitischen Grenzen hinweg seinen „Respekt“ nicht versagt, insbesondere was die Erreichung der deutschen Einheit und die europäische Integration anbelangt. Die SPD-Prominenz war in großer Zahl erschienen, so daß sofort auffiel, wer nicht präsent war. So gaben sich Renger, Rau, Stolpe, Scharping, Westphal, Bahr, Börner, Greta Wehner und etliche MdBs ein Stelldichein.

Auch der Namenspatron des „Genscherismus“, der vor nicht allzu langer Zeit seine gesammelten Presseerklärungen des Auswärtigen Amtes mit wenig erhellenden Kommentaren als „Erinnerungen“ unters Volk gestreut hatte (siehe taz vom 5. 10.), und die Gräfin von der Zeit, die Vogel „liebt“ und „verehrt“, waren gekommen. Das Bundestagspräsidium erschien im Trio: Präsidentin Rita Süssmuth, Burkhard Hirsch – immer noch FDP-Mitglied – und die Bündnisgrüne Antje Vollmer. Der Autor von „Mitten drin“ (Horst Ehmke) fehlte; er hatte einige Breitseiten gegen Vogel abgefeuert, für die sich dieser vornehm revanchierte.

Die beiden Oberhäuptlinge der Toskana-Fraktion setzten andere Prioritäten. Mit ihnen rechnete Vogel besonders ab, obwohl er auch da immer sehr sachlich, aber bestimmt blieb. Oskar Lafontaine setzte schon bei Ezer Weizmans Besuch in Bonn andere Prioritäten, er begleitete Heiner Müller zur letzten Ruhe. Und als Vogel reüssierte, plauderte er wahrscheinlich mit der Eiskunstläuferin Kati Witt. Der Saarländer muß im Osten punkten, wenn er 1998 gegen Kohl eine Chance haben will.

Vogel wollte seine 22jährige Bonn-Berlin-Bilanz eigentlich „Klarsichthüllen“ nennen; ein witziger Titel. Doch der Verlag redete es ihm mit dem Argument aus, der Käufer könne sonst das Buch mit einem über Büroartikel verwechseln. Aber auch als „Klarsichthüllen“-Vertreter hätte Vogel Karriere gemacht! Auf 544 Seiten und 17 Kapiteln Vogelscher Bilanz kommt seine Souveränität und Abgeklärtheit zum Ausdruck. Der Autor kann es sich leisten, mit seiner Pedanterie, „Oberlehrer“-Attitüde, „Klarsichthüllen“-Mentalität und seinem revolutionären „Wiedervorlagesystem“ zu kokettieren und dabei sympathisch zu bleiben.

Bei der Vorstellung des Buches gab Vogel eine Kostprobe seiner Korrektheit: So konnte er es sich nicht verkneifen, auf eine Unterlassung des Verlages hinzuweisen, der ihm, dem „Oberlehrer“, nicht mehr das Opus vor Drucklegung nochmals zur Letztüberprüfung vorgelegt hatte. Demzufolge ist die letzte Seite unpaginiert! Auch in finanziellen Dingen habe er sich um „Ordnung“ bemüht. So habe er den Flugpreis während seiner Oberbürgermeisterzeit in München als Spende überwiesen. Diesen Beleg „kann ich noch heute vorlegen“. Die CSU-„Amigos“ können sich eine Scheibe abschneiden.

Für Hans-Jochen Vogel ist das „Freund-Feind-Schema“ für die Politik untauglich. Für ihn gibt es nur wenige Freunde, viele „Parteifreunde“ und Gegner, aber keine Feinde. Diejenigen Politiker, die Vogel als seine Freunde (Schmude, Rau, Däubler-Gmelin) bezeichnet, können sich geehrt fühlen. Zu den besonders geachteten „Parteifreunden“ zählen die SPD-Größen Brandt, Schmidt und Wehner. Keiner der Toskana-Enkel wird von Vogel ausgezeichnet. Gegner sind fast alle aus den anderen politischen Gruppierungen. Selbst Heiner Geisler ist nicht sein Feind, obwohl er ihn „nicht ausstehen“ kann.

In welchem Spannungsverhältnis der Pflicht- und Verantwortungs-Mensch Vogel stand, wird in der Hochzeit der RAF deutlich, als das Land durch Entführungen, Morde und Bombenanschläge innenpolitisch schwer angeschlagen war. So setzte Vogel das Kontaktsperregesetz durch, das den Strafverteidigern der RAF-Häftlinge den ungehinderten Zugang zu ihren Mandanten untersagte, weil man vermutete, sie arbeiteten mit ihnen konspirativ zusammen. Insbesondere die Entführung von Hanns-Martin Schleyer brachte die führenden Politiker in große Gewissensnöte. Sie mußten abwägen zwischen Schleyers Leben und der Staatsräson. Vogel plädierte für letzteres. Wie schwer er sich diese Entscheidung persönlich gemacht hat und dies auch gegenüber der Familie Schleyer begründend durchgehalten hat, gehört zu den beeindruckenden Passagen dieses Buches. Aus dieser Zeit resultiert auch Vogels Hochachtung gegenüber Helmut Schmidt.

Willy Brandt hatte es als kränkend empfunden, daß sich unter seinem Vorsitz die Rechten in der SPD formierten. Mit einem gewissen Stolz weist Vogel darauf hin, daß er der eigentliche Spiritus rector des „Seeheimer-Kreises“ ist.

Auf seine Einladung im April 1973 nach Lahnstein, trafen sich zirka 40 „realistische Reformer“. „Aus dieser Bewegung gingen im weiteren Verlauf die sogenannten Seeheimer hervor.“ So sehr sich Vogel in der Rolle des pflichtbewußten Parteisoldaten gefällt, „zufällig“ stand er im Juni 1987 bestimmt nicht im Wege, als Brandt über seine designierte Parteisprecherin stolperte. Schließlich ging es nicht nur um einen SPD- Vorsitz – wie heute – sondern um die Brandt-Nachfolge.

Wohltuend ist Vogels sachlicher Stil, frei von jedem Moralisieren, selbst dort, wo es seiner Meinung nach angebracht wäre, wie bei der Politik von Lafontaine oder Schröder. Obwohl ihm deren Verhaltensweisen nicht nachvollziehbar erschienen, legte er sich in seiner Bewertung von Lafontaines Anti- Vereinigungskurs größte Zurückhaltung auf, obgleich er seinen Zickzackkurs 1990 und beim Einigungsvertrag nicht guthieß.

Auch Lafontaines Kneifen bei der Übernahme des Partei- und Fraktionsvorsitzes 1990 war mit Vogels Auffassung von Verantwortung nicht in Einklang zu bringen. Vogel respektierte die Entscheidung, verstand aber nie, „daß sich jemand das Amt des Bundeskanzlers zutraut, dafür kämpft, es zu erringen, das Amt des Oppositionsvorsitzenden aber ablehnte“.

Hatte Vogel letztendlich für Lafontaines finanzpolitische Einwände gegen Kohls Vereinigungskurs Verständnis, so fehlte ihm dieses gegenüber Gerhard Schröders narzistischem Medienexhibitionismus völlig. Besorgt fragt sich Vogel, ob Schröders Medienpräsenz ihm nicht wichtiger sei als das Gesamtinteresse der SPD, „die keiner als Trampolin für eigene hohe Sprünge mißbrauchen darf ... So wie Schröder bislang agiert, hat er nicht nur der Partei Schaden zugefügt, sondern sich auch selbst beschädigt.“ Im Lichte der chaotischen Verhältnisse, in die die Toskana-Hedonisten die Partei stürzten, erstrahlt Vogels Re-Ollenhauerisierung der SPD als fortschrittliche Periode in der Parteigeschichte. Vielleicht kann die SPD nur autoritär oder durch ein revolutionäres „Wiedervorlagesystem“ zusammengehalten werden. Eine Sisyphus-Arbeit ist es allemal.

Die „Nachsichten“ können aber durchaus auch als Karrieredrehbuch für nachwachsende Politikergenerationen dienen. Ob aber im Zeitalter des „anything goes“ die Vogelschen Vorstellungen von „Pflicht“ und „Verantwortung“ noch attraktiv sind, kann im Lichte der machiavellistischen Abhalfterung von Rudolf Scharping zu Recht bezweifelt werden. Der augenblickliche Zustand der SPD wird eher durch den Lebensstil- Politiker Lafontaine als durch den Pflicht-Ethiker Vogel repräsentiert. Eine interessante und erhellende Bilanz nicht nur für Insider.

Hans-Jochen Vogel: „Nachsichten. Meine Bonner und Berliner Jahre“. Piper Verlag, München 1996, 544 Seiten, 49,80 DM