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Früh um neun geht das Spielen weiter

Nach Hastings kommt man der Atmosphäre wegen: Der „International Chess Congress“ auf dem Pier des südenglischen Seebades vereint Schach-Großmeister und Novizen  ■ Fotos: Christian Nialki; Text: Tom Levine

Der Pier von Hastings hat bessere Zeiten gesehen, das sieht man ihm an; etwas bessere zumindest in seinen gut 124 Jahren. Am Steg blättert die weiße Farbe von rauhem Holz. Die Reling wackelt. Der Ballsaal, zu dem der Steg hinausführt, steht hoch und verloren auf den Holzbohlen über der grauen Ebbe. Auf der Luvseite sind ein paar Angler: Sie haben Zeit. Drinnen aber mahnen tickende Uhren zur Eile.

Wenn der britische Winter naßkalt und unerfreulich über das südenglische Seebad hereinbricht, übernehmen merkwürdige Scharen die Hotels und Pubs am Ufer des „Channel“. Dann wird im Ballsaal das Heizgebläse angedreht, werden Neonröhren geputzt, Tische, Stühle und Tafeln aufgestellt. Dann wird Schach gespielt. Dreieinhalb Wochen lang. Und das seit einhundert Jahren. Der „Hastings International Chess Congress“ ist das Schachturnier mit der größten internationalen Tradition. Es ist darüber kein Nobelturnier geworden, auch wenn die Spitzenspieler von Anfang an dabeigewesen sind. Die zahlreichen Wettbewerbe reichen vom Turnier der in der Fide-Rangliste aufgeführten Könner bis zu dem der „Wochenend-Novizen“.

Im Spielsaal auf dem Pier zieht es wie Hechtsuppe durch die hölzernen Wände. Im fensterlosen Spielsaal, unter dem Summen kaputter Neonröhren und dem Brummen des verwegenen Heizgebläses, sitzen einige Spieler in Hut, Mantel und Schal. Das Gemetzel mit König, Dame und Springer dauert in der Regel drei bis sechs Stunden; da kann es recht frisch werden.

„Nach Hastings“, erklärt Jürgen Brustkern, „kommt man der Atmosphäre wegen.“ Der Berliner ist – wie zahlreiche andere – seit vielen Jahren Stammgast des „Chess Congress“. Als Zuschauer kennt er die warmen und die besonders kalten Stellen im Ballhaus. „So nah kommt man sonst kaum an die Großmeister und internationalen Meister heran“, sagt er.

Beim stillen Wandel zwischen den Schachtischen wird Schach erlebbar: zuerst die langsamen Eröffnungsrituale, dann das Ausbauen der Positionen, schließlich – wenn die Zeit nach vier Stunden anfängt knapp zu werden – das „große Sterben“. Die ersten achtzig Züge müssen nach diesen vier Stunden abgeschlossen sein. Mit dem Nahen der Frist wird immer hektischer gezogen.

Peter Trzaska (40) kommt aus Wattenscheid und ist seit sieben Jahren Mitglied der Hastings-Familie. Für ihn gehört das „Après- Schach“ zum Chess Congress wie der schmierige Imbiß auf dem Pier. Dort gibt es während des Turniers auch einen wirklich gottlosen Kaffee. In den Pubs, danach in den Hotelbars und Discos wird „socialized“. „Für einige wird die Nacht ziemlich kurz“, heißt es aus berufenem Mund: Punkt neun Uhr morgens geht das Turnier ja weiter.

Die große Schachwelt war in Hastings immer zu Hause. Beginnend mit Steinitz, dem vielleicht größten Schachspieler des ausgehenden 19. Jahrhunderts, haben sich hier Weltmeister und Herausforderer getroffen. Steinitz verlor gegen seinen „Nachfolger“ Lasker; später kamen Botwinnik, Spassky, Kortschnoi und Karpow. Nur zwei Weltmeister haben nie hier gespielt: Bobby Fischer und Garri Kasparow.

Die Schachspieler von Hastings aber glauben fest, daß Kasparow kommen wird. Nächstes Jahr, übernächstes Jahr, irgendwann. In Hastings soll noch in hundert Jahren Schach gespielt werden.

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