Und nachts kommen die Kakerlaken

Schäbige Duschen, verkommene Küchen – und nie allein. Seit dem Lübecker Brandanschlag verschärft sich die Kritik an Sammellagern für Flüchtlinge. Thomas Wilhelm hat in einem gelebt  ■ Aus Augsburg Klaus Wittmann

Eine Woche lang hat Thomas Wilhelm die Entscheidung vor sich hergeschoben, doch jetzt steht er vor dem Schrank und packt seine paar Habseligkeiten in den Rucksack. Diese Nacht noch daheim in der Wohngemeinschaft und dann am nächsten Morgen endgültig rausfahren ins Fabrikschloß. Für sechs Wochen dort einziehen und zusammen mit den Asylbewerbern leben.

Thomas Wilhelm weiß genau, auf was er sich einläßt; er war in den letzten Tagen und Wochen oft genug draußen in dieser einstigen Fabrikhalle, die vor Jahrzehnten einmal ein Prunkbau der damals noch florierenden Textilindustrie Augsburgs war. Seit einigen Jahren aber ist das „Fabrikschloß“ verkommen, heruntergewirtschaftet, die Fensterscheiben zertrümmert. Gerade mal gut genug, um 700 Asylbewerbern aus aller Welt als Sammellager zu dienen.

„Bestätigung für Thomas Wilhelm, geboren am 12. 10. 1964“, steht auf dem Briefbogen der Regierung von Schwaben. „Herr Wilhelm arbeitet an einer Diplomarbeit über Asylbewerber. Er darf sich deshalb ... jederzeit in der Gemeinschaftsunterkunft Fabrikschloß in Augsburg aufhalten. Herr Wilhelm weist sich beim Wachpersonal aus, bis er jedem Wachmann bekannt ist ... Er kann ferner auf eigene Gefahr im Fabrikschloß übernachten ...“

Der nächste Morgen. Willi, wie ihn seine Freunde nennen, steigt auf sein Fahrrad. Zehn Minuten später steht er an der Wache, stellt sich vor. Deutlich spürbar dieses „Der tickt doch nicht richtig“ in den Augen des Wachmannes. Zum Glück kommt er in das Zimmer der beiden Georgier und des Ukrainers, die er vom Jobben her kennt. Zum Glück nicht in einen der Container draußen im sumpfigen Hof.

„Die ersten Tage bin ich fast immer im Zimmer geblieben,“ erzählt Wilhelm, „ich hab' mich nicht so richtig getraut, rauszugehen.“ Einige Flüchtlinge verdächtigen ihn als Polizeispitzel. Tagelang bleibt diese Skepsis. Morgens beim Zähneputzen, mittags beim Kochen, abends auf den Gängen.

An Schlafen ist die ersten Tage kaum zu denken. Hier ist alles anders. Schäbige Duschen, eine verkommene Großküche, endloses Dröhnen der Fernsehgeräte und Musik aus allen Ritzen. Jede Struktur im Tagesablauf fehlt. Keine Aufgabe, Zeit totschlagen. Und keine Sekunde wirklich alleine.

Als Thomas Wilhelm sein Praktikum macht, leben 700 männliche Asylbewerber aus rund 40 Nationen in der alten, baufälligen Fabrikhalle, getrennt nur durch ein paar Spanplatten. Heute sind hier noch 450 Männer untergebracht.

Thomas Wilhelm nähert sich den Flüchtlingen durch „teilnehmende Beobachtung“. Der angehende Diplomökonom des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fachbereichs will mittendrin sein in der Lebenswelt der Asylbewerber, um – so der Titel der Arbeit – die „Anpassungs- und Bewältigungsstrategien von Asylbewerbern im Lager“ zu studieren.

Bei der Vorarbeit zu diesem „Asylpraktikum“ hatte sich der Student mit Migration beschäftigt. 49 Millionen Flüchtlinge 1994 weltweit, von denen lediglich 5 Prozent nach Westeuropa und nur 1 Prozent in die Bundesrepublik gelangen. Doch dieses eine Prozent hat ausgereicht, daß sich ein reiches Land wie die BRD nach außen abschottet, daß sie das grundgesetzlich verankerte und einst vorbildliche Recht auf Asyl bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt hat. Dabei, so Wilhelm, müßten Sammellager wie das Augsburger Fabrikschloß aus humanitären Gründen längst abgeschafft sein.

„In solchen Lagern ist kein menschenwürdiges Leben möglich. Es ist schon erschreckend, wie es ignoriert, toleriert oder stillschweigend hingenommen wird, daß 50 Jahre nach Ende der Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus in Deutschland Massenlager für Menschen zum Alltag gehören.“

Thomas Wilhelm hat die ersten zwei Wochen hinter sich. Zahlreiche Asylbewerber, vor allem aus Togo, aus Bangladesch, aus dem ehemaligen Jugoslawien, aus Georgien und der Ukraine, bitten ihn, ihre Briefe zu übersetzen und sie bei den gefürchteten Botengängen zu begleiten.

Da ist der junge Bosnier, der vor zwei Jahren nach Deutschland gekommen ist; seine Schwester ist in Nürnberg mit einem Deutschen verheiratet. Mehrmals schon war der Bosnier vergeblich beim Ausländeramt Augsburg, bat um eine Besuchsgenehmigung. Diesmal bittet er mit besonderem Nachdruck, weil er erfahren hat, daß sein Bruder im Krieg gefallen ist. In dieser Situation will er mit der Schwester zusammensein, doch das Ausländeramt blockt wieder ab. Begründung: Die genannten Gründe stellten keine unbillige Härte nach Paragraph 58, Abs. 1, Asyl VfG dar.

Bei allem Bemühen, in diesen sechs Wochen nicht die Distanz zu verlieren – solche Bescheide machen Thomas Wilhelm wütend. Asylbewerber, stellt er später in seiner Diplomarbeit fest, befinden sich in einer im doppelten Sinne krisenhaften Situation. Sie bringen auf ihrer Flucht aus ihrer Heimat bereits Belastungen mit in das Aufnahmeland und mit ins Lager. Dann aber wird ihnen durch dieses unwürdige Umfeld, die unmenschliche Behandlung jede Möglichkeit positiver Bewältigungsstrategien genommen. „Da bleibt doch nur der Alkohol als Verdrängungs-, als Abwehrmechanismus. Oder das permanente Fernsehen.“

Einige Räume des Heimes, erzählt Wilhelm, sind mit leichten Spanplatten nach oben geschlossen. Darüber noch fünf Meter Raum bis zur Decke der Fabrikhalle. Aber die Räume in der Mitte der Fabrik sind nach oben hin offen. Ein 40jähriger Mann aus Bangladesch, „lebt“ in einem solchen Raum. „Da scheißen Tag und Nacht die Tauben rein. Und nachts, da kommen die Kakerlaken und krabbeln dir durchs Haar.“

Und dazu immer diese Geräuschkulisse. Es gibt keinen richtigen Tag, keine richtige Nacht. Mal knallst du dich um zehn Uhr vormittags auf die Pritsche, mal nachts um drei. Es gibt hier keine Möglichkeit, sich zurückzuziehen. Du hast nie Ruhe, nie.

Ein fünfzigjähriger Bosnier kommt zu Willi. Wegen seines Prostataleidens möchte er ein Zimmer, einen Container nahe der Toilette. Mehrmals hat er es vergeblich beim Lagerleiter versucht. Willi spricht mit dem Leiter. Der vertröstet ihn zunächst, sagt dann, zwei Wochen später, es gäbe keinen leeren Container, obwohl viele unbewohnt im Hof stehen. Außerdem, der Bosnier brauche gar nicht erst mit irgendwelchen Attesten von Privatärzten zu kommen, „da dies sowieso alles Gefälligkeitsatteste“ seien. Irgendwann gibt es einen neuen Container für den 50jährigen. Pech nur, daß der feucht ist und gar kein Heizungsanschluß drin ist.

Für den Verwalter ist all das nur lästiger Kleinscheiß. Den Asylpraktikanten, der sich für seinen Geschmack sowieso zuviel einmischt, läßt er noch wissen, daß er Wichtigeres zu tun habe, als sich um so was zu kümmern. Ein anderes Mal hört Wilhelm einen Wachmann sagen: „Die Neger sind doch sowieso alle Schweine, die sollen gefälligst in ihrem Busch bleiben, wo sie hingehören!“ Anlaß für diesen verbalen Ausbruch: Die Bitte eines Marokkaners, die Sicherung so schnell wie möglich wieder reinzuschrauben, nachdem der Strom ausgefallen war.

Vierzehn Fälle hat Thomas Wilhelm in seiner Diplomarbeit zusammengefaßt und analysiert. Sein Fazit nach sechs Wochen Asylpraktikum: beschämend, menschenunwürdig, abscheulich, wie hier in diesem Land mit Flüchtlingen umgegangen wird. Das Ganze hat System, stellt der Diplomökonom fest. Mißachtung der Menschenwürde durch Verweigerung der Privatsphäre, eine fortwährende Situation der Hoffnungslosigkeit. „Das schlimmste hier ist, es herrscht keine Freude.“

Nicht zu vergessen die Kriminalisierung von Asylbewerbern. „Da gibt es natürlich Leute, mit denen ich nichts zu tun haben möchte. Es gibt sicher auch hier Leute, die mit Drogen dealen. Aber das ist eine Minderheit.“

Woher aber dann die Zahlen mit der hohen Ausländerkriminalität? „Meist handelt es sich um Bagatelldelikte wie Ladendiebstahl oder nur um das ungenehmigte Verlassen der Stadt- oder Landkreisgrenzen.“ Denn wenn der junge Bosnier nach der Ablehnung des Besuchsantrags trotzdem zu seiner Schwester nach Nürnberg fahren würde, macht er sich strafbar.

„Daß diese Mißstände nicht nur in Kauf genommen werden, sondern sogar Zweck der Politik sind, zeigt zum Beispiel eine Presseerklärung des Landkreisverbandes der CSU in Bayern aus dem Jahr 1982“, sagt Thomas Wilhelm. „Die unerwünschte Integration Asylsuchender in die deutschen Lebensverhältnisse ist durch bewußt karge, lagermäßige Unterbringung zu verhindern. Sie muß als psychologische Schranke gegen den weiteren Zustrom Asylwiliger aufgebaut werden.“

Thomas Wilhelm hat sein Asylpraktikum längst abgeschlossen. Mindestens einmal wöchentlich ist er draußen im Fabrikschloß und kämpft für die ganz kleinen Dinge, die das Leben für die Flüchtlinge in einem solchen Lager etwas erträglicher machen können. „Ich denke öfter darüber nach, wie schön das ist: Privatsphäre.“