■ Wer den Sozialstaat verteidigen will, der darf die erneute Entfesselung des Kapitalismus nicht verschweigen: Joschka Fischers Symptomdebatte
Im September 1995 schrieb Joschka Fischer in einer Fast-food- Analyse zur Lage der politischen Parteien: „Das kommende Jahrzehnt wird für die Bundesrepublik eine Zeit des grundlegenden Wandels sein, der allerdings nicht von innen kommt, sondern von einer sich radikal verändernden Welt ausgeht.“ Der Fraktionssprecher der Grünen hat reichlich spät und merkwürdig theorielos sein neues Thema entdeckt: das Zeitalter des Globalismus.
Was ihm aktuell dazu im Spiegel („Solidarität und Globalismus“) aus der Feder floß, ist eine ärgerliche Mixtur aus Geschichtsklitterung und ökonomischer Eklektik mit dürftigen Vorschlägen, aus sozialpolitischer Unverfrorenheit und konservativen Anleihen, alles verpackt in grüne Rhetorik.
Mit der Aussage „Nationale Wirtschaftsräume verlieren endgültig ihr makroökonomisches Steuerungspotential zugunsten der internationalen Finanzmärkte, die allein nach Markt- und Renditekriterien global über ihre Investitionen entscheiden“ übernimmt er das schlanke Weltbild des Neokonservativismus. Dagegen ist die Denkschrift der Kirchen deutlich radikaler, weil sie nicht nur den Marktradikalismus kritisiert, sondern gerade deshalb die politische Gestaltung einer ökosozialen Marktwirtschaft einfordert.
Fischer bleibt sogar hinter Ludwig Erhard zurück, der zumindest von der Notwendigkeit der Kontrolle von „Monopolmacht“ sprach. Davon ist bei Fischer nichts mehr zu lesen. Wenn die Bundesrepublik tatsächlich endgültig, wie Fischer behauptet, ihr makroökonomisches Steuerungspotential verloren hat, hat der von ihm kritisierte Gerhard Schröder recht, daß es keine linke oder rechte Wirtschaftspolitik gebe. Und auch kein „Bündnis für Arbeit“, das Fischer vehement unterstützt. Alles just for show?
Bei der Beschreibung des Globalismus klammert Fischer die wichtigsten Triebkräfte, nämlich die beschleunigte Kapitalakkumulation, aus: „Die eigentliche Krise des westeuropäischen Sozialstaates liegt in einer Beschäftigungskrise, zu deren Lösung es bis heute keine überzeugende ökonomische und zugleich soziale Antwort gibt.“ Fischer verwechselt Ursache und Wirkung, denn die „eigentliche Krise“ liegt in der impetuosen Weltmarktentwicklung, die dem Sozialstaat Zug um Zug die Grundlagen entzieht.
„Die Schaffung von wirtschaftlichem Reichtum war in der Nachkriegszeit in Westeuropa also niemals Selbstzweck, sondern diente vor allem dem Zusammehalt der Gesellschaften, der gesellschaftlichen Integration mittels sozialer Sicherheit und Wohlstand für die Masse der abhängig Beschäftigten.“ Abgesehen davon, daß die soziale Integration in erster Linie das Ergebnis erkämpfter sozialer Kompromisse und in den letzen Jahrzehnten außergewöhnlich günstiger Rahmenbedingungen war, verwendet Fischer einen für die Grünen unverständlich kritiklosen Reichtumsbegriff. Erst jüngst hat Gerhard Scherhorn aufgezeigt, daß fast die Hälfte unseres Wohlstands auf „Defensivkosten“ und „Verschlechterungskosten“ beruht, besonders durch die sozialen Kosten des Wachstums und aus dem Raubbau am Naturkapital.
Davon ist bei Fischer keine Rede. Statt dessen unterstellt er eine „überkommene Arbeitsteilung zwischen demokratischer Rechter und Linker: Die Rechte war für die Produktion des Reichtums, die Linke für die gerechte Verteilung zuständig.“ Und er fügt hinzu: „Im Zeitalter des Globalismus wird sich die Linke demnach nicht nur aus ökologischen, sondern auch aus sozialen Gründen ernsthaft Gedanken um die Produktion des Reichtums machen müssen.“ Wen meinte er mit „die Linke“? Offenbar nicht diejenigen, die seit über 100 Jahren für eine Zivilisierung des Kapitalismus durch eine politische Steuerung der Ökonomie gekämpft haben, denn hierin liegt der Schlüssel auch der sozialen Frage. Und auf die Zeitschiene gelegt, ist die Ökologie die wichtigste soziale Frage.
Fischer beklagt zu Recht den „Verlust der sozialen Konsensgrundlage in den westlichen Gesellschaften durch den innergesellschaftlichen Prozeß der Individualisierung“. Doch wie kommt er zu der Schlußfolgerung, daß dies „das direkte Ergebnis der Ära der Vollbeschäftigung zwischen den fünfziger und siebziger Jahren, der Durchsetzung der westlichen Konsumgesellschaft, der gelungenen Sozialstaatsintegration und des dadurch ausgelösten sozialen Fortschritts sei“. Er ist damit in der Konsequenz Wirtschaftsliberalen und Neokonservativen gefährlich nahe, die den Abbau des Sozialstaates betreiben, um zu „alten Werten“ zurückzukehren.
Wer die soziale Frage nicht in den Zusammenhang mit der erneuten Entfesselung des Kapitalismus stellt, der kann auch keine Perspektiven entwickeln. Doch davon, von Macht und Herrschaft, von Überproduktionskrise und Zusammenbruch der klassischen Nachfragemärkte, ist bei Fischer gar nicht, von öffentlicher Armut und anhaltender Umverteilung nur wenig die Rede. Zur Analyse des weltwirtschaftlichen Strukturwandels, der Verselbständigung der Finanzmärkte und der Schere zwischen Real- und Geldkapital trägt er nichts bei. Ökonomische Interessen werden ausgeblendet, Geschichte auf Zeitgeist reduziert.
Weil er diese wichtigen Fragen ausklammert, bleibt Fischer bei den Antworten schwammig. Er empfiehlt nebulös eine „andere kulturelle Wertehierarchie bei Arbeitgebern und Arbeitnehmern“ und fügt schamhaft hinzu, daß „auf den Kern der Sozialstaatsstrukturen aber... nicht zu verzichten sein“ wird. Seine vier Vorschläge für einen „neuen Sozialstaat“ – Flexibilität, beständige Qualifizierung, längere Beteiligung am Arbeitsleben und Grundsicherung – könnten von Blüm und den Sozialausschüssen stammen.
Bei der Option Gestaltung steht bei Fischer nur ein defensiver Satz: „Allerdings ist der Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit allein durch eine Optimierung von Produktion und Dienstleistungen und durch eine ökologische Erneuerung der Infrastruktur, so wichtig diese auch ist, nicht zu gewinnen.“ Es geht aber nicht allein um die ökologische Erneuerung der Infrastruktur, sondern um einen tiefgreifenden ökologischen Strukturwandel in Produktion und Konsum. Denn erst eine „Ökonomie des Vermeidens“, das heißt die absolute und drastische Reduktion des Energie- und Ressourceneinsatzes, schafft den volkswirtschaftlichen Spielraum, um neue Märkte und Produkte zu entwickeln sowie mehr Beschäftigung zu erreichen. Dafür muß die Politik die rechtlichen und finanziellen Voraussetzungen schaffen. Michael Müller
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