Fließende Musik ohne Subjekt

■ Eine Konzertreihe im Studio 10 würdigte die Arbeit des amerikanischen Komponisten Morton Feldman

„Stille Musik“ – unter diesem pointierten Titel lockerte die Reihe das neue werk am Wochenende im Studio 10 des NDR eine Würdigung des reifen Werkes Morton Feldmans mit der Musik geistesverwandter Komponisten auf.

An Feldmans Oeuvre stach die Geschlossenheit ins Auge: Nicht allein bei jedem Stück für sich versagt eine formale Orientierung, das Gesamtwerk erscheint ebenfalls wie ein kontinuierliches Fortkomponieren mit verschiedenen Mitteln: Welchem Stück das Ohr sich zuerst zuwendet ist von geringerer Bedeutung, als daß es sich der absichtslosen Selbständigkeit der atmenden Klänge hingibt. Ruhig ist der Puls dieser großformatigen Musik ohne Subjekt. Ihr Initiator erweist sich als Meister des Raumes und der Farbe. Er mischt mit konventionellem Instrumentarium und verschmilzt Klänge im sublimen Hörbereich des Pianissimo.

In Coptic Light, einem seiner wenigen Werke für großes Orchester, wirkten die NDR-Sinfoniker am Freitag abend trotz Johannes Kalitzkes konzentriertem Dirigat nicht begeistert. Aber Feldman hatte den Musikern auch selten mehr als eine Note zugestanden. Das sanfte Wogen fügte er aus der kalkulierten Verteilung wechselnder Einsätze, arbeitete mit Phasenverschiebungen, wandelnder Dichte und Farbe. Hartnäckig hielten sich die wiegenden Klänge im inneren Ohr.

Eine Uraufführung

Im selben Konzert wurde Ulrich Leyendeckers Violinkonzert uraufgeführt: ein traditionell dreiteiliger Zyklus mit sonatenartigem Kopfsatz, kantablem Adagio – dessen Seufzermotivik einen frappant an das Lente a deserto aus dem Klavierkonzert György Ligetis erinnerte – und heiterem Variations-Finale. Die Spielfreude war deutlich, die vertrackt-polyphone, manchmal minimalistische Struktur und die Interaktionen zwischen dem souveränen Roland Greutter und dem Orchester forderte alle Musiker.

Ob es an seinem hypnotisierenden Klavierstil lag oder tatsächlich an der klugen Auswahl der Komponisten: Dem Pianisten Siegfried Mauser gelang das dichteste Konzert, die Verwandtschaft der versammelten Werke verblüffte. Auf die unablässig kreisenden Perpetua mobilia J.M. Hauers wirkten die Gymnopédies Erik Saties wie eine wunderbare Fortsetzung: Die ziellose Melodie trat hinzu. Sie wurde bei Skrjabins Préludes endlos und düster in Mausers tastender Trance. In Debussys Préludes verwandelten sich die Klangfarben selbst in Melodie. Der zweite Programmteil erreichte diese Magie leider nicht mehr.

Am Abend spielte das Auryn-Quartett in vier Stunden Feldmans 2. Streichquartett. Wie erzeugt der Komponist solche Dauer? Aus „Patterns“ und deren Repetition konstruiert er fließende Klangflächen, variiert allmählich: führt mit einem neuen Motiv eine neue Klangfläche ein, läßt eine bekannte wiederkehren – in unablässiger Folge, unter Vermeidung jeder Sensation, bis der Schluß bedeutungslos wird. Von fern klingt es nach Bergs Flüsterfiguren, Stawinskys Drei kleinen Stücken oder Weberns Miniaturgesten.

Im Vormittagskonzert am Sonntag bestach außer Giacinto Scelsis aufwühlendem 5. Streichquartett vor allem der fesselnde Vortrag von Luigi Nonos Hay que caminar sognando. Zwei NDR-Geiger bewegten sich hier peu a peu zueinander, musikalisch und räumlich. Sie fanden zum Unisono, bevor sie sich wieder im stillen Zwiegesang mit ungeduldigen Ausbrüchen voneinander entfernten.

Eine zweite Uraufführung

Mit der Melodic Version of the First Dream of China von La Monte Young sorgten NDR-Mitglieder für eine zweite Uraufführung. Der kalifornische Altavantgardist hatte vier tiefe Streicher ums Publikum gruppiert. Seine Naturklänge schwebten aus der Stille obertonreich durch den Raum, fein abgestimmt und absolut ereignislos. Bei der Meditationsmusik zerfiel das fahl blau und pink beleuchtete Publikum in zwei Gruppen: die eine suchte vergeblich Abwechslung, die andere schloß einfach die Augen und verließ ihre Körper.

Hilmar Schulz