Messias Müllers Tod

Konsequent gegen den derzeitigen Konsens gespielt: Dimiter Gotscheff inszeniert in Düsseldorf „frühere und letzte Texte“ von Heiner Müller  ■ Von Gerhard Preußer

Der Autor ist unter der Erde. Aber in Düsseldorf findet noch ein Nachspiel statt zum Schauspiel „Müllers Tod“. Denn Heiner Müller hat auch die wichtigste Inszenierung seines Lebens nicht zu Ende führen können: sein Sterben.

Dimiter Gotscheff, Vertrauter des Autors und als Empfänger des „Briefes an den Regisseur der bulgarischen Erstaufführung von Philoktet“, selbst Bestandteil des Müllermaterials, hatte schon lange vor dessen Tod den Plan, Gedichte und Prosatexte Müllers zu inszenieren. Wie Müllers Theatertexte Dramen immer unähnlicher und zu Textblöcken wurden, so entfernten sich Gotscheffs Inszenierungen immer mehr von den dramatischen Texten. Er inszenierte Monologe oder behandelte Dramen, als wären sie solche. Die Struktur des Dialogs verschwand aus seinen Inszenierungen. Gotscheff inszeniert „Bruchstücke“ von Heiner Müller, das wäre auch ohne Müllers Tod eine Konsequenz der Arbeit beider gewesen.

Aber Müller stellte kurz vor seinem Tod Gotscheff noch Texte aus dem vorletzten und letzten Jahr seines Lebens zur Verfügung. Und so kommt es, daß Müllers Sterben noch einmal stattfindet, dort, wo es auch hingehört, auf dem Theater.

Auf die schwarze Rückwand der Bühne sind mit Kreide Jahreszahlen geschrieben, vom Jahre 0 bis 1996. Wir sind in der großen Geschichte. Es geht um die lange Dauer. Es geht ums Ganze. Davor stehen Reste von Reihen mit Klappsitzen. Wir sind im leeren Theater. Es geht um den Tod. Es geht ums Nichts.

Gotscheff läßt vier Schauspielerinnen und zwei Schauspieler Müllers Texte rezitieren mit wenig, genau kalkulierter Aktion, mit wenigen, aber um so wirkungsvolleren interpretatorischen Zugaben. Den drastischsten Kommentar liefert die Musik. Zwei Jazzmusiker spielen auf der Bühne mit, und nicht nur musikalisch. Der herrische und verzweifelte Gestus von Müllers Texten wird am deutlichsten, wenn der Posaunist Tonsalven ins Publikum und auf die Schauspieler abschießt oder wenn der Schlagzeuger zum donnernden Getöse seiner Wirbel Müllers „Herzstück“ ins Mikrophon skandiert. Dimiter Gotscheff hat natürlich auch Sinn für Müllers zynischen Humor, läßt den „Prometheus“-Text (aus „Zement“) mit clownesk übersteigerter Gestik als heiteres Geburtstagsgedicht vortragen und würzt die pompösen Selbstreflexionen mit einer kleinen Sammlung von Müllers Lieblingswitzen. „Babypille, fauler Zauber, Ajax hält das Becken sauber“, das wird, dreistimmig gesungen, als Werbespot präsentiert.

Schwerpunkt des Abends sind aber die neuen, in den Jahren 1994 und 1995 entstandenen Texte. Es sind zum einen lange protokollartige, gelegentlich auf Pointen zugespitzte Prosagedichte, zum anderen kurze, genau geschliffene Sonette. Zentrales Thema ist die Beschäftigung mit dem eigenen Tod: Nichts Neues also, denn schon 1981 schrieb Müller: „Ich sterbe zu langsam.“ Aber diese letzten Texte zeigen eine hektische Produktivität, ein bewußtes Zerfließenlassen, ein Zerbrechen der Identität in zufällige Impressionen und Reflexionen, und andererseits ein letztes Zusammenhalten und Bündeln der kreativen Energie.

Der in seiner Privatheit anrührendste und so in Müllers Werk einzigartige Text ist ein „Traumtext Oktober 1995“, indem der Träumer mit seiner zweijährigen Tochter auf dem Rücken ein schwarzes, grundlos tiefes, von Betonwänden eingeschlossenes Wasserloch umkreist, abgelenkt durch die Beobachtung des Todes eines Mannes im Liegestuhl, hineinstürzt, und seiner am Rand liegenden Tochter zuruft: „Bleib weg von mir, der dir nicht helfen kann!“ Gotscheff läßt diesen Text tonlos, stockend, immer wieder abbrechend sprechen. Doch dann wird ein Kinderluftballon aufgeblasen, man läßt ihn quietschen, und dann fliegt er davon. Der nächste Text heißt „Engel der Verzweiflung“.

Gotscheff komponiert die Texte so, daß ihre Schwächen sich ausgleichen, und bettet sie in eine Umgebung von minimalen Zeichen ein, die sie erhellen. Aus den Improvisationen der Musiker dröhnen Fanfarenstöße hervor, die sich zu einer verzerrten Paraphrase des Deutschlandliedes verdichten. Dann folgt einer der spätesten und pathetischsten Texte, eine Notiz aus dem Oktober 1995. Gründgens, Althusser, Pasolini, Heidegger und Gott sind darin Vorbilder für den eigenen Tod. Der alte Pathos-Ton, hier wird noch einmal gemüllert („Das letzte Abenteuer ist der Tod“) und gedroht („Ich werde wiederkommen außer mir“). Auch diesen Text bricht Gotscheff, sicher im Sinne Müllers, indem er das eigentlich vorangestellte Brentano-Zitat „Wenn schon dein Lied nicht Leben hilft / So hilft es doch zum Tode“ als nachgetragenen Kommentar ironisch kitschig singen läßt.

Müllers Denken kreiste seit langem um die Rolle der Toten im Leben. Daher war die Inszenierung seines Sterbens mehr als nur Eitelkeit. In dem schon berühmten Interview in Lettre Internationale Ende 1994 sagt er: „Wenn der Zweifel an der Veränderbarkeit der Welt wächst, verstärkt sich der Wunsch, mit den Toten Kontakt aufzunehmen.“ Der Zweifel wächst immer noch, und Müller gehört nun zu den Toten, die etwas zu sagen haben.

Am Ende der Aufführung steht das Sonett „Theatertod“ von 1994. „Leeres Theater. Auf der Bühne stirbt / Ein Spieler nach den Regeln seiner Kunst ... Ein letztes Solo, das um Beifall wirbt.“ Der Beifall kam kräftig.

„Heiner Müller. Bruchstücke. Frühere und letzte Texte“. Düsseldorfer Schauspielhaus (Kleines Haus). Regie: Dimiter Gotscheff. Weitere Vorstellung am 13. Februar