"Wir brauchen Visionäre"

■ Europäer und Muslime trennen keine Welten, meint der Islamwissenschaftler Mohammed Arkoun. Gemeinsame Wurzeln in der Geistesgeschichte müssen berücksichtigt werden, soll der Dialog erfolgreich sein

taz: Professor Arkoun, auf einer Konferenz im Berliner Haus der Kulturen der Welt haben Sie das Wechselspiel von mediterranem Kulturaustausch und der Entwicklung des kritischen Denkens betont. Denn in der Diskussion wurde deutlich, daß sich viele deutsche Teilnehmer der Bedeutung eines wichtigen Elements der europäischen Geistesgeschichte weniger bewußt sind als die Teilnehmer mit einem dezidiert mediterranen Blickwinkel. Ist die emanzipatorische Kraft des kritischen Denkens ein Element, das es verdient, auch in anderen Kulturkreisen verstärkt zu werden? Warum betonen Sie dieses Element der kritischen Vernunft als ein Exportpotential der europäischen beziehungsweise mediterranen Geistesgeschichte? Warum ist es vielen Europäern selber weniger bewußt?

Mohammed Arkoun: Ich betone tatsächlich seit langem, daß das Erscheinen des Islam auf der politischen Bühne in einer Reihe von Ländern für Europa als ein Testfall begriffen werden sollte: um die Gültigkeit und die Universalisierungsfähigkeit dessen zu testen, was in Europa zum erstenmal in der Weltgeschichte entwickelt wurde. Gesellschaftswissenschaftler bezeichnen es als das Verlassen der religiösen Sphäre. Die historische Entwicklung Europas hat seit dem 16. Jahrhundert zunehmend dazu geführt, aus der religiösen Sphäre in eine säkuläre Sphäre überzutreten. Dieser Übergang hat sich in Europa unter großen Problemen vollzogen. Es gab Gewalt, es floß Blut, und es gab auch harte intellektuelle Auseinandersetzungen. Es gab Intellektuelle, die sich mit Haut und Haaren für den Erfolg dieses Übergangs zu einer säkularen Gesellschaft engagiert haben. Und man kann sagen, daß dieser Kampf noch nicht beendet ist. Er dauert an, selbst in Europa.

Wer für einen Islam, der mit Nachdruck das politische Parkett betritt, positive Entwicklungen einklagt, der sieht sich mit diesem Phänomen des Niedergangs des Religiösen konfrontiert. Islamische Betrachter erkennen, daß die europäischen Gesellschaften sich aus der Sphäre des Religiösen herausentwickelt haben. Das stellen sie mit Verwunderung fest, aber auch mit Angst. Denn anders als die europäischen Gesellschaften hat der Islam kein intellektuelles Terrain vorbereitet, um die religiöse Sphäre verlassen zu können.

Wird sich nicht jeder Muslim durch einen solchen Satz angegriffen fühlen?

Aber das entspricht der Realität. Denn Europa ist heute, nachdem es diesen Schritt aus dem Religiösen getan hat, eine hegemoniale politische Größe dieser Welt geworden. Es dominiert wirtschaftlich, im Finanzbereich, in Wissenschaft und Technologie, auf dem Gebiet des Rechts. Wir können über nichts reden, ohne uns auf Europa zu beziehen, wie die Probleme dort gesehen werden, welche Lösungen entwickelt wurden. Selbst die Ablehnung Europas wird mit dessen Begriffen formuliert. Auch wenn Muslime sagen: „Wir wollen es nicht so machen, wie dieses areligiöse Europa“ – es bleibt der Blick auf Europa.

Dabei wird vergessen, daß Europa die Welt des Religiösen nach vielen Kämpfen verlassen hat. Die meisten Muslime kennen diesen verwickelten Entwicklungsprozeß nicht. Und die Muslime machen sich auch nicht das enorme intellektuelle Vakuum klar, das in der arabischen Welt herrscht, das politische und kulturelle Vakuum, die fehlenden staatlichen Strukturen. Sie haben nirgendwo einen modernen Staat aufgebaut, der den europäischen Staaten vergleichbar wäre. Eine Herausbildung des Staatswesens ist praktisch im 13. Jahrhundert stehengeblieben. Das schafft natürlich eine Reihe von Problemen.

Heute stellt sich in der islamischen Welt die Frage, ob man den religiösen Raum besser erhalten oder sich davon lösen sollte. Das ist das Problem. Die Muslime fragen sich, sollen wir den religiösen Raum in der Gesellschaft wieder stärker betonen oder sollen wir wie die Europäer aus ihm heraustreten?

Sie hatten erwähnt, daß das Erscheinen des Islam auf der politischen Bühne ein „Testfall“ sei. Wie ist das zu verstehen?

Statt die Situation in der islamischen Welt als eine Bedrohung zu sehen, könnte Europa dies als Gelegenheit nutzen, seinen eigenen Ansatz zu überprüfen, in intellektueller, kultureller und spiritueller Hinsicht. Und wenn dieser sich bewährt, ist die Frage, ob man ihn auf andere Erfahrungen übertragen kann, ob er also universalisierbar ist. Schließlich müßte man fragen, wie eine solche Universalisierung des Modells realisiert werden kann.

Ihrer Meinung nach fehlt das kritische, selbstreflexive Denken nicht nur im innerislamischen Dialog, es fehlt auch bei der laizistischen Elite in der arabischen Welt. Wie erklären Sie dieses Phänomen?

In der Geschichte haben alle islamischen Gruppen Ideologien entwickelt, also das Gegenteil von kritischem Denken. Ideologie ist eine Sichtweise der Welt, um politisches Handeln anzuleiten, ohne die Vision kritisch zu hinterfragen, die ein politisches Projekt, etwa eine Revolution, praktisch vorantreibt.

Wichtig wäre es, über die Kritik hinauszugehen, die vom kritischen Denken des Westens bisher realisiert wurde. Denn dieses hat sich immer nur auf das eigene Modell bezogen, ohne je andere Modelle in seine kritische Reflexion einzubeziehen. Neu an der aktuellen Situation ist, daß es um die anthropologische Integration der anderen Modelle geht. Wäre nicht zum Beispiel die Integration des islamischen Modells auch für das europäische Denken fruchtbar? Denn das islamische Modell ist Europa kulturell nah: Es reproduziert genau dieselben Kategorien wie das Christentum bei der Entstehung der Moderne und des Laizismus. Nur mit dem Unterschied, daß sich der Laizismus in der islamischen Welt nicht so im Aufwind befindet wie das im Christentum der Fall war.

Unter Moderne verstehen Sie weniger Coca Cola oder Konsum, auch nicht so sehr die gesellschaftlichen Erscheinungen der Moderne. Das Spezifikum der Moderne sehen Sie vielmehr im kritischen Denken. Können Sie das erläutern?

Ich spreche von der intellektuellen Modernität, von der Moderne im Denken. Es geht um das Verhältnis des kritischen Denkens zur Wirklichkeit. Nicht nur: wie erhält der Verstand Kenntnisse über die Wirklichkeit? Sondern: ist er fähig, diese von ihm produzierten Kenntnisse in den Diskurs zu integrieren und zu kontrollieren? Wichtig ist auch die Integration in die juristische und politische Ordnung, um das Gemeinwesen zu strukturieren. Wenn ich also von einer intellektuellen Moderne spreche, meine ich damit einen weiteren Schritt in Richtung intellektueller Autonomie. Dabei geht es auch um das wachsende Bewußtsein von der Verantwortlichkeit des kritischen Denkens für seine Tätigkeit. Diese intellektuelle Arbeit kann auch im Rahmen eines innerreligiösen Dialogs stattfinden.

Sie verstehen die Trennung von Religiosität und kritischem Denken im Sinne einer gegenseitigen Autonomisierung, nicht als Widerspruch. Als eine gesellschaftliche Arbeitsteilung: die Emanzipation des Religiösen von den Niederungen der Politik und eine Emanzipation des kritischen Denkens gegen religiöse oder ideologische Zwänge.

Diesen Schritt der Säkularisierung kann man auf der Basis der intellektuellen Moderne erst jetzt angehen. Vorher war es undenkbar. Bis zur französischen und englischen Revolution, bis zur Intervention der großen politischen Philosophen des 17. und 18. Jahrhunderts, konnte man diese Gedankengänge nicht aussprechen. Diese intellektuelle Arbeit wäre nicht möglich gewesen. Ohne Newton, ohne Galilei, ohne Lavoisier, ohne die Biologisten hätte das rationale Denken nicht solche Leidenschaften anziehen können, wie es dank der Erfolge der exakten Wissenschaften geschah, weil diese die materielle Moderne ausgelöst haben.

Das Verhältnis zwischen materieller und intellektueller Moderne sehe ich so: Das moderne Denken hat die Dimension der intellektuellen Verantwortlichkeit eingeführt, während der Physiker nur die Kontrolle darüber ausübt, ob seine Brücke funktioniert und nicht zusammenfällt. Damit hört in der Regel seine Verantwortlichkeit auf. Als Physiker die Atombombe entwickelt hatten, gab es einige, die die moralische Frage gestellt haben, was damit geschehen solle. Aber es gibt viele andere Wissenschaftler, die sich für die moralische Frage nicht zuständig fühlen. Sie verstehen sich nur als Techniker oder Mathematiker.

Das moderne Denken mischt sich ein, engagiert sich ethisch, beschäftigt sich mit Sinnfragen.Das ist das zentrale Element der Moderne.

Sie fordern eine bewußtere Erinnerung an die geistesgeschichtliche Entwicklung des kritischen Denkens im Kontext des mediterranen Kulturaustauschs. Damit betonen Sie zwei Aspekte: zum einen den historischen Prozeß, der zur europäischen Aufklärung führte, zum anderen den mediterranen Kulturaustausch, also das Zusammenspiel von christlich-europäischer und islamisch-arabischer Geistesgeschichte. Warum ist für Sie sowohl die historische als auch die mediterrane Dimension so wichtig?

Ich betone diese Dimensionen, weil im Mittelmeerraum die beiden großen Achsen aller unserer heutigen Debatten entstanden sind: Die Metaphysik, die mit den großen monotheistischen Religionen verbunden ist, hat sich durch das Christentum und den Islam auf der ganzen Welt ausgebreitet. Weiterhin hat sich von dort aus das philosophische und juristische Denken entwickelt. Während des gesamten Mittelalters gab es eine Debatte mit paradigmatischem Gehalt zwischen Theologen und Philosophen. Die Theologen wanden sich um die monotheistische Achse, während sich die Philosophen um die platonisch-aristotelische Achse drehten. Bis zum 13. Jahrhundert wurden beide Richtungen in arabischer Sprache formuliert und entwickelt, rangen miteinander in einem politischen Kontext, der vom islamischen Kalifen beherrscht wurde. Eine Phase, die immerhin sieben Jahrhunderte andauerte. Dann verlagerte sich die Auseinandersetzung nach Europa und wurde dort fortgesetzt. Ohne Unterbrechung.

Ich beziehe mich auf historische Fakten, nicht auf abstrakte Konstruktionen. Die Probleme, die von den muslimischen Philosophen und Theologen an den Ufern

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des Mittelmeers debattiert wurden, sind dieselben, die während des gesamten Mittelalters im katholischen Denken eine Rolle spielten. Später bestimmten sie auch das protestantische Denken sowie das philosophische Denken von Descartes, Spinoza oder Leibniz. Es gibt keine Unterbrechungen im intellektuellen Kampf zwischen den beiden Linien. Sie haben über Jahrhunderte miteinander gerungen. Dieser Kampf spitzte sich in Europa zu und führte zu einem Bruch. Hier ist es dem philosophischen Denken, der Autonomie der Vernunft gelungen, sein politisches und rechtliches System durchzusetzen, das sich von den früheren Systemen unterscheidet.

In diesem Prozeß haben sich auch die Instrumente des Denkens verändert. Politik, Wirtschaft und Recht setzten sich durch. Die Kirche leistete Widerstand gegen diese Veränderungen. Sie hat sie auf intellektueller Ebene niemals akzeptiert. Das vergessen die Europäer heute.

Viele Europäer sehen mit einer gewissen Überheblichkeit auf andere Kulturen wie die islamische, in denen das philosophische Denken sich nicht vom religiösen Denken lösen konnte.

Wenn die Europäer sich an die Entstehungsprozesse des kritischen Denkens erinnern würden, wären sie geduldiger gegenüber dem heutigen Islam. Deswegen fordere ich von den Europäern, ihre eigene historische Entwicklung wahrzunehmen, anstatt die Muslime, die heute ähnliche Debatten führen, von oben herab zu betrachten, nur weil sie den Europäern als überholte Probleme erscheinen.

Zudem sollte man sich daran erinnern, daß auch die Theologie hervorragende Denker hervorgebracht hat. Sie hat viel zur kulturellen Erweiterung des Menschen beigetragen: Die Kathedralen, die Malerei, die Musik haben sich dank der Theologie entwickeln können. Sie ist nicht nur die Welt der Dogmatik. Es handelt sich um eine Vernunft, die innerhalb des Rahmens der Offenbarung agiert. Das ist der große Unterschied. Die theologische Vernunft bewegt sich innerhalb der Offenbarung, das heißt unter der Annahme: „Gott existiert und hat gesprochen.“ Während es seit Descartes und Spinoza heißt: „Gott mag existieren – darüber muß ich noch nachdenken – aber ich reflektiere darüber außerhalb des Offenbarten.“ Hier vollzog sich der Austritt aus dem religiösen Denken. Aber er wurde nur von einigen Denkern vollzogen, nicht von der ganzen Menschheit. Auch heute noch haben wir in Deutschland oder Frankreich Theologen, die den Rahmen der Offenbarung verteidigen.

Indem Sie die gemeinsame Tradition betonen, stellen Sie den internen Dialog sowohl der europäischen Seite als auch der arabisch- islamischen Seite in einen erweiterten Rahmen. Ist das eine Voraussetzung dafür, daß arabisch-islamische Intellektuelle ein selbstreflexives, kritisches Denken aus einem internen Dialog entwickeln können?

Ja, das ist entscheidend. Wenn die Muslime an diese verschüttete philosophische Dimension des arabischen Denkens anknüpfen, werden sie in die Welt des Westens eintreten. Durch die autonome, philosophische Vernunft hat der Okzident seinen Weg von der christlichen Metaphysik zu einer Metaphysik neuer Qualität beschritten. Aber es gibt auch gemeinsame Probleme, die noch einer Lösung harren. Wie ist das zum Beispiel mit der Frage der Trennung von Kirche und Staat? Sollte man nicht besser von einer bestimmten Strukturierung der religiösen und politischen Instanzen sprechen, statt von einer Trennung? Sie sehen, man ändert einen Begriff und ändert damit das Programm, ja die Vision. Wenn sie von Strukturierung sprechen, werden die Muslime schon etwas ruhiger zuhören, und sie werden die Europäer nicht mehr verdächtigen, antireligiös, also gegen Gott eingestellt zu sein. Und in Europa besteht die Notwendigkeit, die Frage der Religion oder zumindest die der Ethik neu zu stellen. Die Außenpolitik Europas basiert nicht auf einer Ethik der Menschenwürde. Sie beruht auf purem Machtwillen, dem Gegenteil von Ethik.

Ende November lezten Jahres fand in Barcelona eine Konferenz der Europäischen Union über die zukünftige Mittelmeerpolitik statt. Für Sie bedeutet die Verankerung einer Mittelmeerdimension in der europäischen Politik eine bestimmte intellektuelle Vision: diese Dimension des kritischen Denkens neu zu beleben, sowohl in Europa als auch in den islamischen Anrainergesellschaften des Mittelmeers.

Mein Traum wäre es, wenn Europa sich von seinen Widersprüchen befreien könnte. Das würde neue politische und intellektuelle Energien freisetzen, die bisher unterdrückt sind. Denn die kritischen, demokratischen Intellektuellen der arabischen Welt, die sich etwa in Algerien, Tunesien oder Ägypten dafür einsetzen, die Entwicklung eines modernen Staates unter der Beachtung von Menschenrechten und Demokratie voranzutreiben, finden weder in Westeuropa noch in den USA eine klare Unterstützung.Beide machen Realpolitik und stützen sich dabei vor allem auf die beiden Kräfte, die in der Region den Ton angeben: den politischen Islam und autoritäre Machteliten. Die Politiker Europas und der USA kommen gut mit ihnen aus. Es gibt keine Option für eine dritte Perspektive, die doch dem Selbstverständnis Europas am nächsten käme: eine entschlossene Option für die Perspektive der Menschenrechte und der Demokratie.

Es geht um eine neue Vision von Geopolitik, mit der Europa all seine Anstrengungen in den nächsten 20 Jahren verbinden kann, zunächst im Mittelmeerraum, aber später auch darüber hinaus in bezug auf andere Kulturregionen. Ich wünsche mir eine Erklärung nach dem Motto: Bis jetzt hat Europa Nationalstaaten errichtet. Diese haben zu heftigen Konflikten auch innerhalb Europas geführt, denn sie basierten auf dem Konzept der heiligen Unabhängigkeit jeder Nation. Jede Nation hat einen heiligen Egoismus entwickelt und damit seinen Interessen gedient. Zur Expansion außerhalb und innerhalb Europas wurden drei schreckliche Kriege geführt. Die neue Vision dagegen besteht darin, die geschichtliche Entwicklung in eine Richtung zu lenken, die auf Solidarität beruht und nicht auf ökonomischen Strategien zur Erorberung von Märkten. Und die Basis dieser Solidarität könnte in der Integration von Kulturen durch eine gemeinsame ethische Begründung liegen.

Die Mittelmeerdimension bedeutet für Sie weniger eine wirtschaftliche Kooperation als eine Stärkung der gemeinsamen Tradition des kritischen Denkens?

Es wird keine wirtschaftliche Entwicklung geben, wenn sie sich nicht auf einer Kulturpolitik gründet: auf ein europäisches Selbstverständnis, das die Kulturen und intellektuellen Traditionen des Mittelmeerraums in ihrer Vollständigkeit wahrnimmt, das sich daher positiv auf die gemeinsame Tradition mit der arabisch-islamischen Geistesgeschichte bezieht, also auf den Prozeß der Herausbildung kritischen, selbstreflexiven Denkens von Ibd Rushd über Descartes bis Kant. Dies würde die wirtschaftsorientierte Realpolitik der Europäer mit einer intellektuellen und kulturellen Dimension anreichern.

Gleichzeitig könnte dieses Projekt die emanzipatorische Dynamik der europäischen Geistesgeschichte verstärken. Das wäre selbst für Europa wichtig, denn es handelt sich um eine permanente Auseinandersetzung. Zudem wäre es eben auch eine Unterstützung für die emanzipatorischen Kräfte in der arabischen Welt. Ich insistiere auf der kulturellen Dimension. Dies könnte die kulturelle Vision der Europäer und gleichermaßen der Muslime modifizieren.

Heute gibt es keine Visionäre wie zu Beginn der europäischen Integration nach dem 2. Weltkrieg. Als Reaktion auf die Schrecken des Krieges wollten sie das Gewaltpotential innerhalb Europas mit einer politische Lösung bändigen. Eine Lösung gleicher Art schlage ich für die Mittelmeerregion vor. Nach all den Kriegen, die wir erlebt haben, nach den Bürgerkriegen – Algerien hat in den letzten 30 Jahren gleich zwei davon erlebt – haben wir heute keine Stimmen mehr, die wie Adenauer eine neue Vision formulieren könnten.

Ein Europa, das ausschließlich durch Schengener Abkommen und Osterweiterung gekennzeichnet ist, ließe die Basis seiner Attraktivität verkümmern?

Das hängt vom Umgang mit dem Schengener Abkommen ab. Wenn es nur als Instrument gegen gefährliche Migrationsturbulenzen eingesetzt wird, kann man das akzeptieren. Aber dahinter steckt auch eine andere Haltung.

Als der frühere Nato-Chef de Claes noch belgischer Außenminister war, antwortete er einmal auf den EU-Beitrittsantrag von Marokkos König Hassan II: „Wir sind Europäer. Unsere Werte sind völlig unvereinbar mit denen des Islam.“ De Claes war immerhin Außenminister und hatte trotzdem ein völlig falsches Geschichtsbewußtsein, sowohl von der Geschichte des Christentums als auch von Europa und vom Islam.

Ein solches Verständnis ist nicht fähig, an der Dynamik der europäischen Entwicklung anzuknüpfen, die eine Emanzipation des Individuums hervorgebracht hat. Und nur darin liegt der große, bleibende Wert der historischen Entwicklung in Europa.

Wieso sollte es nicht reichen, wenn die Europäische Union vielleicht noch einige Länder Osteuropas aufnimmt, aber an den Ufern des Mittelmeers haltmacht? Das schließt ja nicht aus, daß wir uns auf die Tradition der Aufklärung beziehen.

Ja, ein Teil der Europäer, die nicht aufgeklärt ist über die Kulturgeschichte Europas, denkt so. Dabei braucht Europa Intellektuelle aus der arabo-türkischen Mittelmeerregion, die es an sein eigentliches historisches Gedächtnis erinnern. Dieses historische Gedächtnis schafft eine Bewegung, die all jenen Angst macht, die den gewohnten Komfort erhalten wollen. Sie fürchten sich vor der Öffnung der Grenzen. Aber wenn diese Ausdehnung des kritischen Denkens nicht vollzogen wird, wird dies in der einen oder anderen Weise auf die Europäer zurückfallen, denn die Welt ist begrenzt. Interview: Thomas Hartmann