"Ha, Zweifel, das ist nichts besonderes"

■ Das neue Leitungsteam des Berliner Ensembles setzt auf die Hierarchie, will keinen "Etikettenschwindel" mehr betreiben und in kürzester Zeit möglichst viele Fehler machen. Ein Gespräch

taz: Martin Wuttke, vor einem halben Jahr haben Sie gesagt, sich festzulegen hieße, sich ins Grab zu legen. Jetzt sind Sie aber doch ziemlich festgelegt?

Martin Wuttke: Ach nee, das glaub' ich nicht. Festgelegt fühl' ich mich nicht. Ganz im Gegenteil. Dieses Theater ist doch ein großer Bereich, in dem man sich bewegen kann. Mein Hauptinteresse wird bleiben, auf der Bühne zu arbeiten. Mit allem, was hier oben in der künstlerischen Direktion passiert, muß ich lernen umzugehen; das will ich versuchen zu minimieren, soweit das möglich ist.

Das heißt, die Intendantenarbeit wird im Team erledigt. Mit Teamarbeit hat man hier im Hause aber nicht gerade positive Erfahrungen gemacht.

Stephan Suschke: Das war aber ein anderes Modell: der Versuch von vollkommen gleichberechtigten, älteren Direktoren. Hier ist es ein hierarchisches Modell.

Carl Hegemann: Wir werden auf Funktionsbestimmungen nicht verzichten. Außerdem haben wir natürlich viel bessere Voraussetzungen, im Verein zu arbeiten – wir sind schließlich wohngemeinschaftserfahren.

Suschke: Ich hasse Wohngemeinschaften.

Wuttke: Ja, das ist ein echtes Problem zwischen uns. Aber dafür bist du in der DDR groß geworden.

Diese „WG“ muß jetzt wohl die künstlerische Ausrichtung und Zielsetzung „ausdiskutieren“. Welche Ideen gibt es bisher?

Wuttke: Wir hatten bisher leider relativ wenig Zeit. Im Moment geht es darum, daß wir die jetzige Spielzeit, so wie sie geplant ist, zumindest in groben Zügen weiterbewegen. Ideen haben wir, die Frage ist nur, ob und wie wir sie realisieren können. Das Problem ist auch, daß hier im Theater lange Zeit bestimmte Kräfte ausgegrenzt wurden. Das kann so nicht bleiben.

Wer wurde ausgegrenzt?

Wuttke: Als die fünf Intendanten das Haus übernommen haben, gab es ein spielfähiges Ensemble: über 30 Leute. An diesem Ensemble wurde im wesentlichen vorgeplant. Zwischenzeitlich gab es hier weit über hundert Schauspieler. Das ist doch Irrsinn.

Suschke: Was das eigentliche Problem war oder noch ist: daß mit Leuten, die Protagonisten sein können, nicht gearbeitet wurde. Statt dessen wurden Stars geholt. Was Barbara Schall damals der alten Leitung vorgeworfen hat, es werde hier ein Etikettenschwindel betrieben, das ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Und dem muß man sich natürlich stellen. Auch wenn's hart ist, schwierig und kompliziert. Es wurden Fehler gemacht, okay. Und wir werden in der nächsten Zeit natürlich auch ganz viele Fehler machen, zwangsläufig. Es gibt ja so eine Philosophie, möglichst viele Fehler in möglichst kurzer Zeit zu machen...

Hegemann: Das ist ein modernes Managementprogramm: Wir brauchen Fehler en masse, sonst kommt man nie weiter.

Suschke: Wir sind, und das ist unsere einzige Chance, kein funktionierendes Theater. Und das ist eine wahnsinnige Chance.

Was wird sich verändern?

Suschke: Ich finde es töricht und verlogen, nach neuen Inhalten und großen Regie-Namen zu fragen, besonders weil wir da eine Kontinuität haben. Wir haben mit „Brecht/Müller/Shakespeare“ ein Programm für eine bestimmte Art von Theater, das, wenn es durchgesetzt ist, einen ganz eigenen Standpunkt darstellt.

„Brecht/Müller/Shakespeare“ also weiterhin als Leitmotiv?

Wuttke: Eher als Ausgangspunkt. Das muß nicht heißen, daß es bei diesen Autoren bleibt. Daraus könnte auch mal „Brecht/Müller/Aischylos“ werden.

Hegemann: Es ist doch eine Traditionslinie, um die man einfach nicht herumkommt. Die letzte große Innovation im Theater kam von Brecht. Danach gibt es nur noch kleine Versuche. Einar Schleef ist einer der wenigen, der versucht hat, darüber hinauszukommen. Wenn man Theater weiterentwickeln will, also an den Aporien des Theaters arbeiten will, dort, wo's nicht weitergeht, wo man Unbehagen hat und sagt, das sei alles anachronistisch, dann läuft das nur über diese Traditionslinien, Brecht und Müller.

Wuttke: Mit den Autoren Brecht und Heiner Müller verbinde ich außerdem ein bestimmtes politisches Engagement, das auch in dieses Theater gehört...

Hegemann: ... ja, daß Kunst von Gesellschaft und Alltag nicht getrennt werden.

Wuttke: Ja, und gegen die Diskreditierung von Utopien, linke Utopien, die ja, im weitesten Sinne seit dem Mauerfall ... Oder wie formuliert man das besser, Carl? Hilf mir mal!

Hegemann: Ja, also – irgendwas vom „Ende der Aufklärung?“

Wuttke: Ja.

Hegemann: Utopieverlust? Der jeglichen Gedanken an eine Perspektive der Überwindung der Verhältnisse ...

Wuttke: Ja.

Das klingt nach einer ratlosen Utopie.

Wuttke, Hegemann: Ja, genau.

Hegemann: Völlig ratlos. Auch Ratlosigkeit über den Stellenwert von Literatur. Also wenn Stephan Suschke sagt, wir bauen auf Sprache – dann sag' ich natürlich sofort, die Sprache hat überhaupt keine richtige Funktion mehr. Mit Sprache kann man alles machen...

Das Infragestellen, das Zweifeln sind also wesentliche...

Hegemann: Ha, Zweifel, das ist nichts besonderes, das gibt's immer. Zu dieser Zweifler-Haltung gehört auch, daß man seine Zweifel wieder beruhigt: Man hat ja gezweifelt, und damit ist wieder alles so, wie es ist. Irgendwo steht bei Hegel, der ein wichtiger Vorläufer von Müller ist, der Weg könne nicht nur durch den Zweifel gehen, sondern durch die Verzweiflung. Für mich ist jetzt ein Punkt erreicht, wo man sich auf diese Verzweiflung einlassen muß. Wenn man an eine Sache herangeht, dann kann man nicht mal eben so nur daran rütteln, das muß man voll in Frage stellen. So wie das bei Brecht/Müller der Fall ist. Man muß eben schauen, was ist, wenn nichts mehr zu retten ist. (Pause)

Kann diese „Verzweiflung“ nicht auch in Lähmung ausarten?

Hegemann: Der Mut der Verzweiflung! Wir wollen offensiv mit der Lethargie umgehen – Verzweiflung meine ich im übrigen weniger psychologisch, sondern erkenntnistheoretisch.

Wo ist der Platz des Berliner Ensembles in der Theaterlandschaft Berlins?

Wuttke: Ein wichtiger Punkt ist, hier zu erproben, was Sprache noch kann, ob es Sprache überhaupt noch gibt. Kann man auf der Bühne noch sprechen, oder muß man nur noch stottern und stammeln und babababa ...

Hu, aber hat nicht Herr Castorf diese Frage auch schon gestellt?

Hegemann: Also, man soll sich nichts vormachen. Castorf gehört in diese Traditionslinie. Da gibt es natürlich Berührungspunkte; Castorf inszeniert hier ja auch Müllers „Auftrag“. Aber trotzdem ist die Volksbühne als Theater stark jugend- und spektakelorientiert, während wir uns mit den Stoffen viel reflektorischer und selbstbezüglicher auseinandersetzen. Wir werden keine VolksbühneII.

Wuttke: Bei uns gibt es einfach die härteren Brötchen.

Und wer macht die Brötchen? Es heißt, daß angesehene Regisseure hier am Haus inszenieren sollen nach dem Motto: Jetzt alle mit vereinten Kräften fürs BE.

Hegemann: Wir haben da gar nichts gegen, klar.

Es fielen Namen wie Thomas Langhoff oder Robert Wilson.

Wuttke: Langhoff würde keinen Sinn machen, der arbeitet ja hier um die Ecke. Bob Wilson ist ein vollkommen anderer Fall. Mit ihm habe ich tatsächlich gesprochen. Ich fände das natürlich aus verschiedenen Gründen gut, das hat mit meiner Biographie zu tun [Wuttke spielte in „The Forest“ von Wilson/Byrne/Müller; d. Red.]; darüber hinaus ist er ein Regisseur, der jahrelang mit Müller zusammengearbeitet hat.

Ein zweiter Ansatz ist, auch mit jungen Regisseuren und zeitgenössischen Autoren zu arbeiten. Gibt es da konkretere Überlegungen?

Wuttke: Das ist natürlich die andere Seite der Medaille, die wollen wir vorstellen und fördern. Das sind zwei Eckpfeiler – Klassiker allein machen keinen Sinn. Es macht aber auch wenig Sinn, neben dem Theater eine Wärmestube für Leute einzurichten, die da vor sich hinschreiben dürfen. Ich denke, die Aufgabe ist, zentral hier auf der Bühne, gerade an der besten Stelle, Uraufführungen zu wagen.

Herr Wuttke, Sie sind jetzt Schauspieler und Intendant – wo bleibt Ihr Privatleben?

Suschke: Privat fällt weg.

Wuttke: Ja, es gibt kein Privatleben. Aber das gab's auch vorher nicht. Theaterarbeit ist einfach eine bestimmte Lebensform, kein Job. Wenn man endlich zu Hause ist, im Bett liegt und den Fernseher angemacht hat, denkt man sich manchmal schon: Och, so könnte man doch auch toll leben.

Hegemann: Wobei man das auf Dauer nicht aushalten würde. Aber das Schreckliche ist, daß sich die sozialen und familiären Verhängnisse, die man im Theater beschreibt und kritisiert, im eigenen Privatleben wiederholen können, weil man immer nur mit dem Theater beschäftigt ist. Da kann ich noch mal auf Hochhuth [als Un- Thema zuvor abgetan; d. Red.] zurückkommen: Interessant ist doch, daß der ein Stück wie „Wessis in Weimar“ schreibt und jetzt praktiziert, was er darin – man könnte meinen: „anklagt“. Solche Sachen sind verblüffend. Sie haben viel mit dem Theater zu tun und der Tragödienstruktur, die das Theater immer am Leben gehalten hat.

Wuttke: Das ist wirklich wahr: Wenn man ein Stück probiert, sich mit einem Stoff beschäftigt, dann tauchen diese Stoffe in irgendeiner Form plötzlich im Leben auf.

Hoffentlich nicht immer – Sie spielen ja gerade „Arturo Ui“.

Hegemann: Ha, das ist doch klar: Spielt man einen Diktator, wird man plötzlich Intendant.

Suschke: So, das war's aber jetzt. Interview: Petra Brändle