Jazz aus dem Rechner

■ Seine "Modern Day Jazz Stories" heißen nicht umsonst so: Courtney Pine, Saxophonist und Familienvater, komponiert mit dem Macintosh. Angst vor der nächsten Generation hat er nicht. Vom Jungle lernen heißt grooven lern

Sie sind ein sogenannter Familienvater mit drei Kindern, ziehen aber regelmäßig durch die Clubs. Was interessiert Sie an einer Musik wie Jungle – die Suche nach der verlorenen Jugend?

Courtney Pine: Jungle ist zur Zeit ziemlich hip in London. Und es hat die Energie, die der Punk in den Siebzigern hatte. Bei Jungle tanzt man zu 160 bpm – eine kleine Revolution. Es geht dabei viel um Performance und um einen weiteren Schritt in Richtung auf eine schwarze Musik, die mit moderner Technik arbeitet. Und es geht um einen neuen Schritt, Musik überhaupt unter die Leute zu bringen. Diese Typen sind nicht bei Plattenmajors unter Vertrag.

Die Technik ist billig, und sie haben sie zu Hause.

Genau. Sie produzieren die Musik in ihren Schlafzimmern oder sonst einem Raum, wo ein Computer drinsteht, lassen sie als White- Label-Vinyl pressen und vertreiben sie selbst auf der Straße, in kleinen Clubs und Läden. Das ist für mich sehr revolutionär. Deshalb bin ich sehr interessiert daran und wenn möglich auch dabei.

Die Industrie hat hier noch nicht ihre Finger im Spiel?

Jungle ist Independent-Music und very big Underground. Die verkaufen teils mehr als die Plattenmajors mit ihren Chartplazierungen. Wie bei Underground üblich, gibt es viele Loops, die nicht lizenziert sind oder für die Lizenzen nicht vergeben werden. Wie etwa für die Jungle-Version von Anita Bakers „Sweet Love“, da mußte der Loop dann neu gesungen werden.

Was unterscheidet Londoner Jazzer von New Yorkern?

Wir haben mehr Gemeinsames als Trennendes. Aber das mag auch an meiner langjährigen Zusammenarbeit mit afroamerikanischen Musikern liegen und daß unser Medium Jazz ist. Die Bronx- and-Guns-Problematik kenne ich aus London allerdings weniger. Aber auch im Jazz gibt es verschiedene Perspektiven.

Die da wären?

Wenn ich von Jazz spreche, dann meine ich Sidnet Bechet und Albert Ayler. In Amerika kann man hingegen nur eines sein – entweder traditionell oder Free- Player. Mein Lieblingsstück auf „Modern Day Jazz Stories“ heißt „Creation Stepper“. Das hat eine Reggaebaßlinie und Jazzimprovisation. In Europa kann man es sich leisten, Jazz anders zu hören und zu spielen. In einem viel breiteren Rahmen, anders als in den USA eben, viel offener für die verschiedensten musikalischen Einflüsse.

Sie nennen nur schwarze Jazzmusiker ...

Ich könnte auch 'ne Reihe weißer Jazzer nennen, die sehr gut spielen. Archie Shepp lehrte mich, daß Jazz zwar von schwarzen Amerikanern kreiert worden ist, aber von allen gespielt werden kann. Für mich ist das eine Frage der Energie. Wer Jazz rassisch kategorisieren will, produziert negative Energie. Das ist nicht mein Ding. Das ist vielleicht auch ein europäischer Vorteil.

Jungle ist Inner-City-Music?

Ich sehe das zumindest so. Meine Eltern kamen 1959 nach London. In eine dieser typischen Gegenden, wo man die Schwarzen damals konzentrierte – mit billigen, heruntergekommenen Häusern. Diese Gegenden sehen heute ganz anders aus. Man lebt dort relativ gut, und so bin ich aufgewachsen. Meine Erfahrung ist also weder deutlich von Rassismus noch von Armut geprägt.

Für die Versuche, HipHop und Jazz zusammenzubringen, interessieren Sie sich auch. Auf der neuen CD von Guru sind Sie dabei, und Sie waren auch mit auf der Tour.

Das war eine interessante Erfahrung. Weil hier junge Leute erreicht werden, die mit Jazz absolut nichts am Hut haben. Da interessiert es keinen, ob man gerade ein Charlie-Parker-Solo spielt oder nicht. Da geht es nur darum, ob man zu dem, was gerade gespielt wird, auch grooven kann. Und wenn man sieht, wie Donald Byrd die Kids, die nichts über ihn wissen, in Bewegung setzen kann, das hat schon was. Kids ab 14, die zur Zeit noch Hardcore-HipHop hören. Das sind die, um die wir Jazzer uns bemühen sollten.

Was gibt es sonst Nennenswertes im Jazz-HipHop-Bereich? Greg Osbys „Black Book“, Buckshot LeFonque, Gary Thomas „Overkill“ ...

Spielt er überhaupt noch Saxophon?

Steve Coleman ...

... and Metrics – definitiv! Vor allem die Pariser Aufnahme ...

Ornette Colemans „Tone Dialing“ ...

Sehr schöne Platte ...

Herbie Hancocks Flop mit „Dis Is Da Drum“ ...

Zu viele Spuren. Aber bei dem Projekt sehe ich noch ein ganz anderes Problem. Jazzmusiker schauen auf die HipHopper herunter. Sie denken, das ist alles ganz einfach für sie. Und das Wesentliche überhören sie dann. Herbie hat 96 Spuren aufgenommen, Guru 24, aber die HipHopper brauchen nur 16. Wenn Jazzmusiker andere Musiken integrieren wollen, dann müssen sie erst mal an der Quelle arbeiten. So wie Coltrane oder McLaughlin früher, als er sich mit indischer Musik beschäftigte.

Und dafür sind sie sich zu gut ...

Viele Jazzer sehen bei den HipHoppern lediglich 'nen Haufen von Typen, die Glück genug hatten, einen Hit zu landen. Und ansonsten nur nackte Frauen am und im Swimmingpool im Kopf haben. Das ist aber eben ganz unwesentlich. Wichtig ist, daß es für alle Arten von Musik, auch für HipHop, Basics gibt, die man sich erst mal aneignen muß. Bei HipHop geht es um die Rekreation von Sounds. Davon haben Jazzer in der Regel keine Ahnung. Und die Tempi, nach denen sich die Kids von heute bewegen – welcher Jazzer geht schon in einen HipHop-Schuppen, um herauszufinden, welche Tempi das sind?

Daß Jazz von HipHop lernen kann – okay. Aber warum sollte die jüngere Szene sich für Jazz interessieren?

Viele HipHopper kennen sich gut mit Grooves und Loops aus. Und sie sind ständig auf der Suche nach abgefahrenen Sachen. Wenn man als DJ 'ne geile Platte besitzt, die kein anderer hat, ist das so, als hätte man ein eigenes Abzeichen. Dafür gibt es Respekt. Zum Beispiel, weil man die eine Lou-Donaldson-Scheibe hat. Die Kids orientieren sich an den DJs. Und sie wollen auch eine Platte finden, die nur sie haben. So kommen sie in Kontakt mit Jazz. Auf der Suche nach dem einen geilen Groove. Wir Jazzer sollten ihnen auf diesem Wege helfen, sie auch mit anderen Grooves vertraut machen. Sie werden den Jazz entdecken durch das Jazz-HipHop-Ding.

Die Jazzer sind also leicht arrogant und mögen denken, daß die HipHopper nur hiphoppen. Aber wie sieht es denn umgekehrt aus?

Das ganze HipHop-Ding dreht sich hauptsächlich um Tapferkeit, Mut und die Mein-Stil-ist-besser- als-deiner-Attitüde. Dieses Kämpferelement ist im Jazz der Neunziger kaum mehr präsent. HipHopper wissen, daß Jazzmusiker total qualifiziert sind. Daß sie über ein immenses Wissen verfügen, was die Geschichte ihrer Musik angeht. Sie sehen aber auch, daß die Jazzer nicht rumhängen. Und das hat dazu geführt, daß sie die Fähigkeit to party verloren haben. Die Jazzer wissen um die Musik, aber die HipHopper wissen, wie man die Leute bewegt.

Warum gibt es auf Ihrer CD keinen Rap?

Ich mag schon sehr, was Guru macht. Und ich habe selbst damals die Schule geschmissen, um in einer Reggaeband zu spielen. Ich wollte jetzt aber ein HipHop-Album mit Jazzsaxophon. Denn vor allem bin ich Saxophonist. Die HipHopper sampeln James Brown, Lou Donaldson oder George Clinton, und dann rappen sie darüber. Ich dachte mir, daß ich ähnliches machen könnte, wenn ich alte Jazzsongs sample und Saxophon darüber spiele.

Einiges auf Ihrer Platte, zum Beispiel „The 37th Chamber“, klingt sehr nach den siebziger Jahren.

Ja, genauso geht es mir auch. „Modern Day Jazz Stories“ ist die Musik der frühen Siebziger in einer Version, wie sie heute erst möglich ist durch die Integration von Turntables, Sampling und Backing Figures. Viele glauben, daß die Musik der Siebziger ausschließlich aus Fusion bestand. Ich beziehe mich jedoch ganz bewußt auch auf einen anderen Siebziger-Sound, den wir hier mal die akustische Tradition nennen können. Gary Bartz' „I've known rivers“ zum Beispiel und natürlich Sam Rivers und die unglaubliche Cannonball Adderley Band, die ja insbesondere Anfang der Siebziger einzigartige Experimente unternahmen. „The 37th Chamber“ entstand eigentlich aus einem Orgelloop von Santanas „Black Magic Woman“. Da hatte es jedoch noch eine Baßlinie, die wir nicht trennen konnten, und so bat ich Geri Allen, den Orgelloop noch mal neu einzuspielen.

Sie komponieren mit einem Mac?

Ja, ich komponiere mit einem Macintosh-Computer. Das ist das Kompositionsmedium der neunziger Jahre. Grooves und Loops von anderen Platten werden isoliert und in die neue Komposition integriert. In diesem Fall spielte Geri also die Orgellinie aus „Black Magic Woman“, und die wurde dann wie ein Loop bearbeitet, damit ich sie filtern konnte, bis ich den speziellen Orgelsound hatte, den ich wollte. Kurz gesagt: Wir integrieren die alten Siebziger-Grooves und -loops und alternieren sie mit den Sounds der Neunziger. Ich speichere zum Beispiel auch Saxophonlinien, die ich selbst spiele, im Rechner, wenn ich etwa Töne haben möchte, die unterhalb der Tonskala eines Saxophons liegen. Für den Jazz mag das noch sehr ungewöhnlich klingen, aber im HipHop und Pop läuft das bereits. Vor allem im Jungle.

Sie brauchen also gar keine Band mehr?

Das Problem dabei ist, daß man der Musik jegliche Spontaneität nimmt, wenn sie ausschließlich am Rechner produziert wird. Wir nehmen den Computer lediglich als Bezugsrahmen, als Hilfsmittel sozusagen. Wie man früher die Zettel mit den cord changes hatte.

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Sie können Ihre Kompositionen ja auch ausdrucken lassen ...

Das tue ich auch gelegentlich, vor allem für die Bandproben. Bei „Modern Day Jazz Stories“ spielt die Band zu, oder vielleicht sollte man besser sagen mit Drumbeats, Saxophonlinien, Orgel- und Gesangsparts, die bereits im Rechner gespeichert und somit jederzeit abrufbar sind. Teilweise nutze ich drei bis vier verschiedene Grooves, die ich gleichzeitig abspiele. Man kann eben eine Menge mehr und gleichzeitig geschehen lassen, wenn man die moderne Technik so nutzt. Aber die Live-Band bleibt das Zentrum.

Wie waren die DJs in den Produktionsprozeß integriert?

Zum Teil hatten sie die von der Band eingespielten oder die im Rechner produzierten Loops auf Vinyl. Ihre Arbeit damit haben wir dann aufgenommen, teils sogar noch mal im Rechner bearbeitet.

Cassandra Wilson singt „Don't Xplain“ auf Ihrer CD. Warum so 'n altes Teil?

Weil man den Bezug zur Vergangenheit haben muß. Insbesondere im Jazz. Vor allem dann, wenn man an etwas Neuem experimentiert. Eigentlich wollte ich Billie Holidays Stimme sampeln – das gelang aber nicht. Und meiner Meinung nach ist Cassandra Wilson heute die Sängerin, die am besten geeignet ist, einen Billie-Holiday-Song zu interpretieren. Cassandra tat das in einem Take. Der darauffolgende CD-Titel „Dah Blessing“ ist meine Hommage an die Old School der Jazzimprovisation.

Aber von der wollen Sie doch gerade weg.

Art Blakey lehrte mich, daß Jazz immer anders sein muß und kann. Daran arbeite ich. Es ist ein Irrglaube zu meinen, daß die Höhe der Produktionskosten etwas mit der Qualität der Musik zu tun hat. Dank der neuen Technologien kann man heute bereits für 5.000 Dollar eine Platte auf höchstem Niveau machen. Interview: Christian Broecking