Abstand zwischen Wirklichkeit und Abbild

■ Gelungene Bilder zur zweiten Hand: Jubel auf Kampnagel für „Scope - Second Hand Memories“ von Jan Pusch

Die erste Hälfte dieses Abends muß man einfach geduldig aussitzen: Fünf exzellente Tänzer bewegen sich darin nämlich - in Klarsichtfolie gekleidet – am Thema vorbei. Was haben die Polaroid-Fotos, die sich die Darsteller gegenseitig um die Ohren hauen, mit dem anspruchsvollen Sujet zu tun, das Choreograph Jan Pusch sich vorgenommen hatte: die Beziehung zwischen Abbild und Wirklichkeit, zwischen verfälschter Erinnerung und real existierendem Leben auszureizen?

Doch nach der Pause folgt die Überraschung. Scope – Second Hand Memories wächst zu einer kurzweiligen Abfolge von Szenen, die das Gemüt des Zuschauers erhellen, die Nervenimpulse im Großhirn zum Flitzen bringen und das Zwerchfell ordentlich durchrütteln. Mit leichter Hand führt Pusch seine Tänzer aus eindrucksvollen Soli in unterhaltsame Ensembleszenen, denen der Schauspieler Ulrich Cyran immer wieder spielend entgleitet, um das Publikum mit kleinen Geschichten zu unterhalten.

Wie etwa der von dem Mann, der einem Rivalen die Frau ausspannen will. Ganz allmählich dämmert dem Betrachter, daß ihm die Handlung bekannt vorkommt, obgleich sie nicht in einem Yuppie-Setting spielte: Die Verfilmung war im vorletzten Jahr ein Kinohit. Doch das tut der Geschichte keinen Abbruch, im Gegenteil, Ulrich Cyran erzählt sie facettenreicher als der Film. Und jetzt begreifen wir, was das Leben der Leinwand voraus hat: Im Leben gleitet der Erzähler mitten im Satz ab, verheddert sich in amüsanten Details und verwirrenden Schleifen. Und die sind keinesfalls unwichtig, denn im scheinbar Nebensächlichen zeigt sich erst der Charakter des Menschen, und das Herz des Zuhörers erwärmt sich dadurch für ihn.

Immer wieder erweist sich Cyran als der Star des Abends. Ob er anhand eines Fotos erläutert, wie die Wirklichkeit dahinter aussah – die wiederum so verfälscht ist, wie Erinnerung nur sein kann –, oder ob er Gesprächsfetzen aus einem Quadrolog von Kinogängern zitiert – dieser Schauspieler versteht es, ohne Bühnenbild eine ganze Halle in Atem zu halten.

Auch die drei Tänzerinnen und zwei Tänzer führen einen Szene zum Erfolg, wann immer sie ihre darstellerischen Fähigkeiten zum Einsatz bringen dürfen. Selten wurde das Pellen von Eiern so fesselnd demonstriert wie von Wobine Bosch, die mit konzentrierter Kühle zur Tat schreitet. Hinter der glatten Erscheinung der eleganten Madame schimmert eine Schicht heißen Verlangens – doch auch die wiederum ist kalkuliert eingesetzt wie im Kinofilm. Der Zuschauer kommt aus dem Pellen der Bedeutungsschichten nicht mehr heraus.

In einem gleichermaßen schwerelosen wie raschen Solo dehnt Frieder Bachmann wenige Minuten Zeit in ein Hundertfaches an Erlebnisraum: Körperliche Impulse, Wünsche, Regungen flackern auf und weichen wieder anderen, die sein differenziert ausgebildeter Körper in allen Nuancen zeigen kann. Dieses eigenwillige Solo ist ein tänzerischer Höhepunkt des Abends, der doch manchmal am „Frankfurter Stil“ krankt: Vor allem im ersten Teil gereichen die in geometrisch-strengen Linien geführten Bewegungen nicht zu einer Umsetzung des thematischen Inhaltes.

Doch bleiben wir beim gelungenen zweiten Teil: Philipp Seibert als männlicher Partner schafft es, mit dem schlaksig-coolen Standardtyp aus der Feierabend-Fernsehserie zu verschmelzen, der den Gegner mit einem einzigen Fingerzeig einschüchtert und doch immer wieder Rückschläge einstecken muß. Ullinca Schröders betont szenig-flapsige Kostüme tragen noch dazu bei, die Szene leger und amüsant zu gestalten.

Fiona Gordon erläutert eine Kuß-Choreographie und weist uns auf die wichtigsten Details hin, während Filmmusiken von Ray Cooder (Paris, Texas) bis Richard Strauss dahinplätschern und immer weitere Ebenen der ironischen Brechung hinzufügen.

Jan Pusch ist mit Scope ein Stück geglückt, das leicht daherschwebt trotz des schweren Sujets.

Gabriele Wittmann