„Niemand in Hamburg sieht diese Unterkünfte als minderwertig an“

■ ... sagt Sozialsenatorin Helgrit Fischer-Menzel (SPD) über Flüchtlings-Massenlager. Niemand? Die taz sprach mit Menschen, die eine solche Aussage sträflich finden und der Senatorin drei Monate im Containerdorf wünschen

Norman Peach, Völkerrechtler

Der Ausspruch der Senatorin ist eine sträfliche Verharmlosung und läßt auf völlige Unkenntnis schließen. Die Massenlager sind katastrophal, ob zu Lande oder zu Wasser. Als vorübergehend sind sie hinnehmbar, doch viele Flüchtlinge müssen dort schon über drei Jahre leben. Es ist das erklärte Ziel des Senats, mit den Unterkünften abzuschrecken. Da kann die Senatorin nicht plötzlich behaupten, sie seien nicht minderwertig. Leider ist die Situation so, daß viele Flüchtlinge trotz der Abschreckungsmaßnahmen keine andere Wahl haben. Ich würde der Senatorin empfehlen, dort selbst einmal drei Monate zu wohnen. Dann würde sie zweifellos ein objektiveres Urteil fällen können.

Mahmut Erdem, Ausländerrechtler

Diese Sammellager für Flüchtlinge sind menschenunwürdig. Aber eine angemessene Unterkunft ist politisch von der Senatorin auch gar nicht gewollt. Es wird mit zweierlei Maß gemessen: Die einen bekommen optimale Bedingungen – SpätaussiedlerInnen –, und die anderen – die nicht deutschstämmigen Flüchtlinge – werden dermaßen zusammengepfercht, daß ein erträgliches Leben unmöglich ist. Bauherren, die Mittel aus dem sozialen Wohnungsbau bekommen haben, müssen Aussiedlern eine bestimmte Anzahl an Wohnungen zur Verfügung stellen. Eine solche Quote müßte es auch für anerkannte Flüchtlinge geben.

Uwe Hinrichs, Kinderschutzbund

Nicht minderwertig? Ich habe selbst gesehen, wie eine Familie mit fünf Kindern in einem Container mit drei Betten hausen mußte. Die Kinder mußten teilweise auf dem Boden schlafen. Im Sommer sind die Container unerträglich heiß, im Winter, bei diesen Minustemperaturen, nicht warm zu bekommen. Es wird am falschen Ende gespart. Auch wenn es Geld kostet, muß man für eine andere Unterbringung oder wenigstens kleinere Einheiten sorgen.

Gisela Wiese, Pax Christi

Die Einschätzung der Senatorin ist unglaublich. Obwohl ich schon lange Flüchtlingsarbeit mache, war ich entsetzt, als Mediziner auf dem Tribunal gegen die Hamburger Flüchtlingspolitik über Zustände in den Sammelunterkünften berichteten. Eine Ärztin beschrieb, wie Kakerlaken am hellichten Tage die Kinderdecken bevölkern. Die medizinische Versorgung und die sanitären Anlagen sind katastrophal. Es ist völlig inakzeptabel, wenn Frauen über Jahre Duschkabinen nutzen müssen, die man noch nicht einmal abschließen kann. Nicht aufgeregte Laien, sondern erfahrene Sachverständige halten die Massenunterbringung für menschenunwürdig. Wie die Senatorin sich über so viele Menschen, die die Massenunterbringung verurteilen, hinwegsetzen kann, ist unbegreiflich. Es ist erschreckend, was heute in Hamburg möglich ist.

Nathaniel C. Nash, New York Times

Verglichen mit den Lebensstandards selbst armer Deutscher kann man die schwimmenden Hotels (Wohnschiffe, d. Red.) und Flüchtlingslager als kaum mehr als verwahrlost bezeichnen. (...) Für diese Asylbewerber ist der (Anerkennungs-)Prozeß langsam und deprimierend, und sie verbringen oft Jahre in Wohnwagenlagern, eingezäunt mit Stacheldraht, oder an Bord eines Wohnschiffes mit winzigen Räumen, bevor sie nach Hause geschickt werden. Das Leben an Bord ist ebenso laut wie einsam. (...) Mitarbeiter des Schiffes sagen, eine der Schwierigkeiten ist, daß Menschen, die zu Hause im Konflikt leben, hier zusammengesteckt werden – Türken und Kurden, bosnische Moslems unnd Serben, Russen und Afghanen –, und daß sie oft bei Messerstechereien eingreifen müssen. (New York Times, 11. September 1995)

Frank Eyssen, Büro für notwendige Einmischung

Hamburg läßt sich das Unrecht viel kosten. Die bewußt ausgrenzende Unterbringung in Lagern außerhalb der für Deutsche geltenden Normen soll Signalwirkung haben: Wir wollen euch nicht. Menschen werden dehumanisiert. Keine Senatorin und kein Senator würde diese Lagerhaltung gegenüber Deutschen vertreten. Gerade für Bürgerkriegsflüchtlinge setzt sich somit der ethnische Wahnsinn auch hier fort.

Karoline Korring, Woge e.V.

Selbst Behördenmitarbeiter stufen viele diese Unterkünfte als „jugendgefährdende Orte“ ein. Wenn man viele Menschen auf engsten Raum zusammenpfercht, darf man sich nicht wundern, wenn nichts mehr funktioniert. Streit und Konflikte sind ebenso vorprogrammiert wie die Isolation des einzelnen in der Masse. Man muß sich in diesen Unterkünften abgrenzen, um das überhaupt auszuhalten. Die Massenunterbringung ist unmenschlich. Kinder und Jugendliche, besonders die, die ohne Familie kommen, gehen dort unter. Sie werden nicht mehr gesehen. Die Sozialarbeiter, die mit wenigen Stunden für sehr viele Menschen zuständig sind, können sie nicht individuell betreuen.

Franz Forsmann, terre des hommes

Massenunterkünfte wie Schiffe, Container-, Wohnwagen- und Pavillonlager und Kasernen liegen weit unter dem Standard für Sozialwohnungen. Die Hamburger Behörden haben sie selbst als „Notunterkünfte“ bezeichnet und mißbrauchen sie jetzt als Dauerunterkünfte. Dort herrscht eine unbeschreibliche Enge, zwanzig Menschen und mehr müssen eine Toilette, einen Duschraum, eine Küche teilen. Die hygienischen Zustände sind katastrophal. Eine Privat- und Intimsphäre gibt es dort nicht. Die Folge sind Angstzustände, Aggressionen und Konflikte, aber auch physische Krankheiten. Die Kinder stehen unter ständigem Streß, neigen zu apathischem Verhalten, Konzentrationsmangel und Desinteresse. Schulkinder können, wie Lehrer berichten, aufgrund der Lebensumstände oft selbst einfache schulische Angebote nicht bewältigen. Diese Wohnbedingungen verletzen die Menschenwürde und damit Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes und Artikel 1 der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“. Außerdem wird durch diese Lebensbedingungen die Gesundheit und das physische Wohl der dort untergebrachten Menschen gefährdet, wobei insbesondere die Kinder betroffen sind. Die Kinderkonvention wurde in der Bundesrepublik Deutschland ratifiziert. Doch die dort festgelegten Rechte auf Entwicklung (Art. 6), ein Höchstmaß an Gesundheit (Art. 24), auf Bildung (Art. 28 und 29) werden in erheblicher Weise verletzt.

Anna Bruns, GAL

Wider besseres Wissen zu behaupten, Massenlager seien nicht minderwertig, ist eine dreiste Form von Täuschung der Öffentlichkeit. Die Senatorin mißbraucht ihre Amtsautorität für unwahre Behauptungen. Solche Aussagen ist man von Bausenator Eugen Wagner und seiner Gefolgschaft gewohnt, sie stehen aber einer für die Ärmsten dieser Stadt zuständigen Sozialsenatorin schlecht zu Gesicht.

Joachim Katz, Jugendrichter

Containerlager und Wohnschiffe sind für einen längeren Zeitraum ungenügend, teilweise entsetzlich und menschenunwürdig. Viele dieser Menschen sind aus fürchterlichen Situationen geflüchtet, haben Schlimmes durchgemacht und finden sich dann in miserabel ausgestatteten Massenquartieren wieder. Wenn man sich vor Augen führt, daß dort auch Kinder leben, ist das besonders grauenvoll. Für sie wird fast nichts getan. Und das, was getan wird, kommt überwiegend von ehrenamtlichen Initiativen. Es fehlt an allem – an Spielmöglichkeiten, an Betreuung, an Platz. Diese Unterkünfte sind nicht kindgerecht. Ich glaube nicht, daß es keine andere Möglichkeit der Unterbringung gibt, sondern daß sie vom Gesetzgeber bewußt zur Abschreckung so vorgesehen ist. Nach dem zu urteilen, was ich selbst gesehen habe und was glaubwürdige Zeugen auf dem Hamburger Tribunal berichtet haben, ist eine dauerhafte Unterbringung von Flüchtlingen in Sammelunterkünften nicht zulässig.

Milka Pavlicevic, Fernsehjournalistin

Flüchtlinge haben nicht die Wahl der Unterkunft. Sie sind auf staatliche Gnade angewiesen. (Kommentar zu Wohnschiffen in der Arte-Fernseh-Reportage Rien ne va plus? – Asyl in Deutschland, am 1. Februar 1996)

Zusammengetragen von

Silke Mertins