Ausziehen bei zehn Grad minus

■ Hauptbahnhof: Durchsuchung barfuß im Schnee / Revierleiter Kirchenallee fertigt Anzeige wegen „Verdacht der Körperverletzung“ Von Silke Mertins

Nina McCune glaubte ihren Augen nicht zu trauen, als sie vergangenen Mittwoch mittag vor dem Hauptbahnhof eine Polizeikontrolle beobachtete. Zwei „türkisch aussehende“ Männer mußten sich bei einer Durchsuchung durch drei uniformierte PolizistInnen bei klirrender Kälte ausziehen. Vor der Apotheke „Senator“ unmittelbar außerhalb des Bahnhofsgebäudes veranlaßten die BeamtInnen die beiden Männer, bei denen man offenbar Drogen vermutete, sich ihrer Kleidung zu entledigen.

Bei zehn Grad minus mußten sie ihre Jacken ablegen, die Hose aufmachen, damit die Polizei die Unterhose inspizieren konnte, Schuhe und Strümpfe ausziehen, so daß sie schließlich barfuß auf dem Schnee standen. Egal ob der polizeilich veranlaßte Striptease begründet war oder nicht, „es muß doch die Menschenwürde gewahrt werden“, so die Zeugin. Und es sei auch keine polizeiliche Blitzaktion gewesen: „Ich ging in den Bahnhof, und als ich zurückkam, war die Durchsuchung immer noch im Gange.“

Üblichweise wird die polizeiliche Suche nach Drogen auf der Kirchenallee-Wache durchgeführt. Warum man in diesem Fall ein frostigeres Interieur vorzog, weiß Polizeisprecher Hartmut Kapp auch nicht. Auf der Wache 11 war der Vorgang zunächst „nicht nachvollziehbar“. Die Durchsuchung wurde nicht protokolliert. Allerdings sei ein solches Vorgehen „nicht üblich“, zumal „bei solchen Temperaturen“. Zu diesem konkreten Fall könne er nichts sagen. Aber grundsätzlich „muß die Menschenwürde natürlich gewahrt werden“.

Darüber aufgeklärt, daß der taz ein Foto vorliegt, auf dem die PolizistInnen und einer der beiden angeblich Verdächtigen ohne Winterjacke zu sehen sind, die Strümpfe in der Hand und die Stiefel vor ihm liegend, wurde erneut geprüft. Das Ergebnis: Aufgrund des Bildes und der Schilderung der Zeugin „fertigt der Revierleiter der Wache eine Anzeige“, so Kapp, „wegen Verdacht der Körperverletzung“. Die Grenze der zulässigen Ermittlungsarbeit und die Verhältnismäßigkeit sei „mit hoher Wahrscheinlichkeit überschritten“. Mit Hilfe der Fotos werden die Beamten zu ermitteln sein. Die Dienststelle für Interne Ermittlungen (DIE) ist bereits eingeschaltet.

Was das von Innensenator Hartmuth Wrocklage (SPD) eingeführte „Handlungskonzept für St. Georg“ anrichte, wird an diesem Beispiel einmal mehr für den „Kritischen Polizisten“ Manfred Mahr (GAL) deutlich: „Es sind die gesetzlichen Bedingungen, die die Hemmschwellen senken und zu solchen Exzessen führen.“