Die Evolution überquert die Straße

Der Berliner Musiker Mattis Manzel hat seinen ersten Roman geschrieben. Er heißt passenderweise „Peinlich“ und spielt in Neukölln und anderswo. Über Manzel, seine Herkunft und Wirkungskraft machte sich ernsthaft Gedanken:  ■ H. P. Daniels

Rubbermind Revenge waren eine der besseren Berliner Bands der späten Achtziger. Der Bassist hieß Mattis Manzel, und wenn er spielte, trug er auf dem Kopf so eine Art Lampenschirm, was ein bißchen komisch aussah. Aber die kleinen Neo-Hippie-Mädchen in ihren entzückend kurzen Röckchen fanden das irgendwie toll. Überhaupt fanden sie den Mattis Manzel irgendwie toll. Und er spielte ja auch toll Baß. Und schrieb sogar die englischen Songtexte, die keiner verstand. Und irgendwann hieß es, der Bassist Mattis Manzel würde jetzt einen Roman schreiben. Toll. Den würden dann alle kaufen, wenn er fertig ist, vor allem die Hippie-Mädchen mit den kurzen Röckchen.

Einmal konnte man dem Bassisten Mattis Manzel dabei zusehen, wie er sozusagen außerdienstlich wie ein fröhliches Äffchen vor einer Bühne herumsprang, auf der seine Musikerfreunde gerade, wie man so sagt, ihr Bestes gaben ... und dabei reckte der Bassist Mattis Manzel den rechten Arm in die Höhe, wo er mit einem langen Wiener Würstchen in der Hand derart ausgelassen herumfuchtelte, daß es ihm mitten durchbrach, das Würstchen. Und wieder hieß es, der Bassist Mattis Manzel würde an einem Roman schreiben.

Auch erschien der Bassist Mattis Manzel regelmäßig in einem dieser Dichterclubs, wo sie sich gegenseitig vorlesen vom Selbstgeschriebenen und sich anschließend sagen, wie sie's so finden. – He, Alter, findst'n ditt so? Da machte der Bassist Mattis Manzel ein ernstes Gesicht, so mit gerunzelter Stirn und Kopf in leichter Schräglage, und gab Ernsthaftes von sich – irgendwie find ick, iss ditt noch nich so janz ausjereift ...

Doch dann saß er selbst am Pult, holte mit großer Geste einen Schwung Manuskriptseiten aus der hübschen roten Kinderaktentasche, stellte ein Diktiergerät vor sich in Position, band sich die buscheligen Haare zu einem ordentlich Zopf und sprach: – Ick les jetzt nochmal watt aus meim Roman, an dem ick jerade schreibe. Und er las ... obwohl gar keine kleinen niedlichen Hippie-Mädchen zuhörten, was eigentlich schade war. Aber Mattis Manzel las trotzdem, da kannte er nix. Und anschließend fanden einige der Hörer, daß das alles ein bißchen wie Kraut und Rüben war ... und kein richtiger Zusammenhang mit den Sachen vom letzten Mal ... überhaupt kein Zusammenhang mit irgendwas. Und manche fanden, das Ganze sei sogar ein bißchen nervtötend stellenweise — oder langweilig? Und ich fand, daß da mal eine Passage war, die ich fast lustig fand.

Dann kam das Döblin-Stipendium, und Mattis Manzel zog ein ins ehemalige Haus von Günter Grass in Wewelsfleth ... und zog auch gleich wieder aus. Kaum hatte er seinen ganzen Krempel da reingetragen, den Computer, den Monitor, das Keyboard und die orange Plastikthermoskanne, trug er alles wieder raus: Nee, das würde er hier nich aushalten ... schließlich sei er son Stadtneurotiker, und schreibe an nem Stadtroman, vahstehste .. und den janzn Tach nur Dorf und Deich und blaulackierte Milchkannen ... nee, ditt finde er nich cool, wenn er sowat immerzu sehen müsse... da fange er womöglich noch an, an seinem Roman zu zweifeln ... und er wisse nich, ob ditt jut sei...

Einmal noch war Mattis Manzel mit seinem Freund Vaclav (Name geändert, H. P. D.) in Wewelsfleth zu Besuch. Und die beiden rannten hektisch in der Küche auf und ab. Und hielten ihre Diktiergeräte am ausgestreckten Arm in die Luft: Und es war ein Kuhgemuhe, ein Ochsengebrülle und ein Schafsgeblöke in der Dichterküche von Wewelsfleth – Hammwa uffjenomm, jestern, jut wa? ... Und es muhte und brüllte und blökte ... – volle Kanne, echtma, so isset uffm Land ... sind so die Jeräusche, hörste ditt? Geil wa, voll geil ... find ick jut. Und sie rannten durch die Küche wie die Bekloppten, mit ihren Diktiergeräten, Mattis Manzel und sein Freund Vaclav. Und die Haushälterin, die gerade bügelte, fing schon an, sich ein bißchen zu wundern, sagte aber nichts.

– Ja, meinte Mattis Manzel, und heute jehn wa wieder hin zur Kuhweide; und denn spieln wa den Kühen ditt vor. Mal sehn, watt die denn sagen ... Ju, und jetzt gibt es diesen Roman tatsächlich: Mattis Manzel – „Peinlich“. Und die taz fragt an, ob ich auch mal 'ne Buchbesprechung? ... „Peinlich“ von Mattis Manzel. Volltreffer. Ich schwör's: Bei der taz wußten sie nichts von alledem. Um so besser.

Also, wie ist der Roman? Von dem die Westdeutsche Zeitung schrieb, das sei „wunderliche Prosa auf der Höhe der Zeit“? Wunderlich in der Tat ... wobei ich, auf der Suche nach dem wunderlichsten Satz, folgendes fand: „In einer Welt, in der die Evolution beim Überqueren der Straße noch nicht von den eigenen Kindern und Kindeskindern mit Eisenkrampen beschossen wurde, damals, als sie noch nicht so verbiestert war, von wegen der Intoleranz und Respektlosigkeit, mit der sie zu behandeln über die jüngsten Jahrtausende in Mode gekommen ist, früher also, als sozusagen mehr Lametta war, zur Zeit eines rein ideellen Damals also, da wurden die Lust am Vögeln und die Zeugung noch auf einem Teller serviert.“

So wunderlich ist das, daß man anfängt zu zweifeln: an sich selbst, am Roman, am Dichter, an der Welt ... und vielleicht sogar dazu neigt, „Blavatzkys Kinder“ von der Ditfurth für die ganz große Literatur zu halten.

„Auf der Höhe der Zeit“ ist dieser Roman sicher auch, denn wir lesen vom „ultimativ endgeilsten aller Gefühle“ und wie da „ab-gekackt“ und „ab-geheult“ wird, und daß sich Margit „mittlerweile mit ihrer gehobenen Schokoladengeilheit angefreundet“ hat. Da werden Freunde nicht einander vorgestellt, sondern „introduziert“. Und über „Peinlichs Gesicht peitschte ein tollwütiges Pferd hinweg“, wohingegen er ein anderes Mal „ein Grinsen niederhielt, das sich anschickte, sein Gesicht zu bewölken“. An anderer Stelle „steigerte er sein Grinsen zu einem spezifischen Grinsen, einer temporären Variante seines ständigen Grinsens ...“ Und neun Seiten später heißt es: „Er blickte in ein spezifisches Grinsen, das zu einem ihm bekannten Grinsen im Verhältnis stand wie Laubbäume zu Nadelbäumen.“ Wunderlich und schön erschien mir auch der Satz: „Er sah, wie sie in der Ferne, einem Schwarm südwärts ziehender Enten gleich, umherstiefelten.“ etc.

Im zweiten Teil des Buches heißt die Hauptfigur Peinlich plötzlich Hermann. Der Autor will in seinem wunderlichen Roman allerdings nicht mitteilen, was der Grund hierfür sei, teilt dann aber doch mit, daß der Verlag den Namen Peinlich als „verkaufsfördernder“ empfinde ... trotzdem heißt es auf Seite 132: „Peinlich heißt ab jetzt Hermann. Gewöhnt euch dran! Damit zurück in die Sendezentrale.“ Sendezentrale.

Aha. Ja, der Leser wird da ganz persönlich angesprochen oder auch mal keß angerempelt in der wunderlichen Pluralform: „Ihr Hammeln“ ... mit n am Ende, daß es fast bayerisch anmutet. Aber trotz persönlicher Ansprache erfährt man nichts in diesem Buch. Und es gibt auch nichts, was einen interessieren könnte: keine Figuren, keine Ent- oder Verwicklungen, keinen Witz ... nur immer dieses strohdoofe Geplappere auf der Höhe der Zeit.

Dabei fängt der Roman gar nicht mal so schlecht an, sieht man von den erwähnten sprachlichen Albernheiten ab: Margit teilt Peinlich mit, daß sie schwanger ist (von ihm), und wirft ihn aus der gemeinsamen Wohnung raus. Daraufhin latscht Peinlich nach Neukölln und teilt dort seinem Freund Rudi mit, daß er von jetzt an bei ihm wohnen werde. Rudi hat eine tschechische Freundin, die kein Wort deutsch spricht, aber gut kochen kann und offensichtlich noch andere Qualitäten hat. Peinlich arbeitet als Museumsaufseher im Alten Hamburger Bahnhof und interessiert sich für Mona, die auch dort arbeitet. Und jetzt könnte das Ganze richtig losgehen und eine schöne Geschichte werden ... vielleicht sogar ein Roman. So was im Stil von Frank Schultz („Kolks blonde Bräute“).

Wird es aber nicht, denn offensichtlich wußte der Manzel da schon nicht mehr weiter. Also beschreibt er erst mal eine neue Type: Rasputin, den Rocksänger ... und es gibt keine Verbindung zum Rest des Personals oder der Geschichte, außer, daß Rasputin sich auch für Mona interessiert, sich irgendwann in ihrer Wohnung auf sie stützt und von ihr dafür in die Eier getreten wird. Aha. Irgendwann taucht dann auch nochmal Margit, die Schwangere auf; als Interviewpartnerin in einer Radiosendung mit einem Psychologen. Was wie eine einfältige Satire auf Rundfunkmoderatoren und Psychotherapeuten beginnt und dann zu so was wie einer von Max Goldt abgekupferten Szene wird. Allerdings ohne dessen Charme, Humor, Eleganz.

So ist es auch mit den anderen „Vorbildern“, die möglicherweise zu erkennen wären: Woody Allen, Robert Crumb, Eckhard Henscheid, Helge Schneider, Flann O'Brien ... eigentlich nicht die schlechtesten, nur daß der Manzel die alle offensichtlich nicht richtig verstanden hat; denn nach ihrer Verwurstung ist von deren Witz und Intelligenz kein Fünkchen mehr. Richtig anstrengend wird es noch gegen Ende: Circa 50 Seiten lang prökelt Peinlich, der jetzt Hermann heißt (ganz kurz dann doch wieder Peinlich), mit dem Daumennagel an einem Flaschenkorken rum, bröselt die Krümel auf Monas Tisch, sabbert ein bißchen drauf und stellt sich das ganze als wüstes Kriegsszenario vor. Aha.

„Schad ja nüscht, aber watt soll's“, hätte meine Großmutter gesagt. Oder, noch mal Zitat Manzel: „... wäre er möglicherweise zu der Erkenntnis gelangt, daß er die Kraft weiterzureden einzig aus der Tatsache schöpfte, daß er nicht wußte, wovon er redete.“ Ja, wäre er mal. Aber von Erkenntnis keine Spur. Und ob kurzberockte Mädchen das nun lesen wollen?

Mattis Manzel: „Peinlich“. Ammann Verlag, 263 Seiten, 38 Mark