Die Alten will niemand

■ 1.700 Statisten und Komparsen führt der Künstlerdienst. Viele führen ein armseliges Leben. Es sei denn, sie heißen Heinrich, sehen gut aus oder geben sich mit wenig zufrieden

„Ein Statist – das ist der letzte Mist.“ Der Reim sei von ihm. Herbert Heinrich sieht aus wie Hans Albers – Adlernase, stahlblaue Augen, stattliche Erscheinung. Eine absolute Ausnahme, sagt Roswitha Krumm vom Künstlerdienst. Viel zu viel alte Leute habe man. Fast alle ohne Beschäftigung. Alte Leute wolle niemand. Und wenn, dann gingen die Filmproduzenten in ein Seniorenheim, brächten einen Sandkuchen oder so was ähnliches mit und würden da ihre Leute für Massenszenen hernehmen. „Die müssen ja auch sparen.“

Heinrich ist Statist und Komparse. Statist ist die Bezeichnung für die Bühne, Komparse für den Film. Der übergeordnete Begriff heißt Kleindarsteller. Heinrich fühlt sich übergeordnet. „So Massenszenen, das habe ich nur am Anfang gemacht.“ Er sei eigentlich immer groß zu sehen, häufig auch mit Sprechrolle. In Liebling Kreuzberg hat er mal als Bettler vom Mariannenplatz Manfred Krug ein Bein gestellt. Als Krug vor ein paar Jahren mit der Goldenen Kamera der ARD ausgezeichnet wurde, sei auf der Gala im Ufa-Palast genau diese Szene gezeigt worden. „Ganz groß war ich da auf der Leinwand zu sehen.“ Heinrichs Augen leuchten jetzt noch heller, noch blauer als sonst. „Aber eingeladen worden bin ich nicht.“

„Bescheiden, aber immer zur Stelle.“ Außerdem sollte der ideale Komparse anpassungsfähig sein, sagt Krumm. 1.700 Komparsen verwaltet sie in ihrer Kartei. Vom Säugling bis zum 83jährigen Heinrich. Vornehmlich Studenten, Hausfrauen und Rentner. Dabei seien vor allem Männer im Alter bis 50 gefragt; am besten hervorragend aussehend und mit guter Garderobe. Der Komparse muß heutzutage nämlich in der Regel in seinen eigenen Kleidern spielen. „Die im Film haben kein Geld.“

Heinrich wollte früher Schauspieler werden. Obwohl: So ganz genau weiß er das auch nicht mehr. Schauspieler, Sänger oder Tänzer. 1930 hat er mal fünf Stunden Gesangsunterricht bei einem Tenor genossen. Bevorzugt Wagner, aber auch „so Songs“, morgens zum Frühstück. Auch jetzt stimmt er an, „du bist meine Sonne, du bist meine Wonne“, bricht dann aber ab. Seine Stimmbänder seien belegt.

„Du hast mich angesteckt“, sagt er zu seiner Frau. Ihm sei damals „der Hitler dazwischen“ gekommen. So hat er seine Talente erst im Ruhestand, erst mit 70 Jahren, ausspielen können. Viel beschäftigt und viel gefragt ist er: Statist in der Deutschen Oper, Staatsoper Unter den Linden, im Theater des Westens, Komparse in Kino- und Fernsehfilmen, in Serien. Außer Liebling Kreuzberg vor allem Praxis Bülowbogen: Eine Tür in einem Krankenhaus geht auf. Eine Frau in einem Rollstuhl rollt durchs Bild und dann sind nur noch sie zu sehen. Katja und Herbert Heinrich. Sie umarmen sich innig, und er überreicht ihr Rosen. „So was machst du ja sonst nie“, sagt sie jetzt zu ihm. Er schüttelt den Kopf. „Manchmal schon.“ Und lächelt. Jedenfalls habe ihn Günter Pfitzmann, der Arzt aus der Serie, mal auf die Schulter geklopft, als er einen Patienten mit Text („Ne, Herr Doktor, die Pumpe“) gespielt hat. „Ein furchtbar feiner Kerl.“ Auch mit Krug sei er bestens klargekommen. Der habe ihn sogar in der Kantine der UFA-Studios immer gegrüßt.

Früher hießen Leute wie Heinrich Edelstatisten. Heute gibt es nur noch Statisten und Komparsen. „Ist doch keine Leistung“, sagt Krumm, „wenn ich an der Bar stehe und rufe: Hallo, ein Bier.“ Maximal 100 Mark bekommt ein Komparse normalerweise pro Drehtag. So ein Tag kann zehn Stunden dauern und mehrere Rollen enthalten. Manche Produzenten zahlen noch weniger. Tarifvertragliche Regelungen gibt es nicht.

Das stundenlange Rumstehen sei sie leid, sagt Heinrichs Frau Katja. „Da wartest du ewig. Dann zigmal hintereinander den selben Brei, weil irgendeiner immer was verkehrt macht.“ Sie bevorzuge die kleinen Rollen, bei denen man direkt drankomme. Da würde man ja auch was zählen beim Regisseur, sagt ihr Mann. „Als normaler Statist bist du Luft.“

Heinrich hat sich zum erstenmal in seinem Leben lange Haare wachsen lassen. Er spielt in der Staatsoper im Rosenkavalier einen Gelehrten. Er soll wie Einstein aussehen. Jetzt, da ein Gummiband die grauweißblonden Haare zu einem akkuraten Pferdeschwanz zusammenhält, sieht er eher aus wie ein ewig kreativer Maler oder Bildhauer oder wie ein alternder Modemacher aus Paris. „Eigentlich“, sagt er, „bin ich ja nicht eitel. Aber die Haare gefallen mir.“ Seine Frau schlägt die Hand vor den Mund. Eine Szene wie aus einer amerikanischen Vorabendserie. Christoph Oellers