Tausend Jahre dagegen sein

Man will zuerst kaum glauben, daß ein Buch mit dem Titel „Das Volk Gottes. Sektenbewegungen und der Geist der Moderne“ ein Buch über unsereinen ist. Aber nach ein paar Seiten wünscht man sich, die taz würde diesen schmalen Band als Werbegeschenk unter ihre Leute bringen.

Der deutsch-amerikanische Politologe Eric Voegelin, dessen Schriften jetzt allmählich wieder zugänglich gemacht werden, könnte helfen, das Bild vom Prozeß der westlichen Zivilisation um eine entscheidende Perspektive zu erweitern. Voegelin lenkt das Augenmerk weg von den Institutionen und Ideen, in denen die Klassiker der Sozialwissenschaften das Spezifische unserer Moderne verkörpert gefunden haben. Sein Interesse gilt dem „tausendjährigen Drama der Gefühle und Ideen, die sich in Revolte gegen den institutionellen Überbau unserer Zivilisation befinden“.

Voegelin tritt dafür ein, daß der Beitrag dieser Gefühle und Ideen der Revoltierenden zum Zivilisationsprozeß berücksichtigt werde. Zugespitzt gesagt: Ohne das Sektenwesen sind weder die kreative Dynamik der Überschreitung noch die selbstzerstörerische, apokalyptische Gewalt unserer Moderne zu verstehen. Dabei hat Voegelin keineswegs die Absicht, diesen lang dauernden Aufstand zu rehabilitieren. Ganz im Gegenteil: Voegelin, der 1938 von den Nationalsozialisten aus Wien ins Exil (zunächst in die Schweiz, dann in die Vereinigten Staaten) getrieben worden war, sah in jener Partei, die sich am liebsten „die Bewegung“ nannte, eine – wenn auch illegitime – Erbin jener häretischen Bewegungen des Mittelalters, mit denen der Protest gegen die westliche Zivilisation begann: Der Prozeß, der mit Bewegungen für eine geistige Reform angefangen hatte, endete mit einer Bewegung gegen den Geist.

Von dieser These einer „langen Dauer“ mag man halten, was man will – aber Voegelins Hinweis auf die Bedeutung der Sektenbewegung für den Geist der Moderne ist ein wahrer Augenöffner. Und daß hier jemand ohne die geringste apologetische Absicht spricht, tut der Sache ebenfalls gut, denn in ihren Selbstzeugnissen neigen die Bewegungen verständlicherweise dazu, sich zu verkitschen.

Ein Motiv, das alle Sekten verbindet, ist der Aufstand im Namen der Unmittelbarkeit – und wer Voegelins Darstellung des häretischen Widerstands gegen das priesterliche Monopol der Gnadenvermittlung durch die Sakramente folgt, wird kaum umhinkönnen, die Linie nicht bis zu Joseph Beuys' Kampagne für „direkte Demokratie“ weiterzuziehen. Das Buch ist auch all jenen zu empfehlen, die sich lange mit der Legitimität des „bewaffneten Kampfes“ beschäftigt haben. Voegelin stellt diese Debatten zurück in eine Geschichte, die mit den Diskussionen bewaffneter Gruppen in der Puritanischen Revolution in England 1649 begonnen hat. Es könnte sein, daß der Begriff der „eschatologischen Gewalt“ hier neue Perspektiven eröffnet: „Unter eschatologischer Gewalt verstehen wir ein Reich der Aktion, das – im Verständnis der aktivistischen Gläubigen – jenseits von Gut und Böse liegt, weil es den Übergang von der Welt des Unrechts in eine Welt des Lichts sicherstellt.“ Diese Perspektive ermöglicht den Aktivisten die Abwehr moralischer Konflikte, mit denen sich gewöhnliches menschliches Handeln herumschlagen muß. Die „,letzte Gewalt‘, im aktivistisch-mystischen Sinn“, so Voegelin, „liegt jenseits einer Existenzordnung, in der der Mensch in seiner kreatürlichen Endlichkeit verstanden wird“. Ganz im Sinne dieses Satzes eines anonymen Mystikers aus dem 14. Jahrhundert habe ich mir insgeheim immer die Theologie Ulrike Meinhofs vorgestellt: „Sollte es daher der Wille Gottes sein, daß ich sündigen soll, so muß mein Wille der gleiche sein, und ich darf nicht einmal wünschen, der Sünde zu widerstehen. Das ist wahre Buße.“

Aber auch Libertinismus, freie Liebe, Nudistenkolonien und Vegetarismus – Programmpunkte jüngerer Reformbewegungen, die wir geneigt sind, als Errungenschaften dem modernen Individualismus zuzurechnen –, sind nach Voegelin säkulare Spätformen des adamitischen Mystizismus, dessen Ziel in der apokatastasis, einer Rückkehr vom Sündenfall in die paradiesische Einheit mit Gott, bestand, und zwar im Hier und Jetzt. Daher der Jugendkult, die Kindlichkeit, der narzißtische Infantilismus dieser Bewegungen, der Mythos der Bisexualität – und umgekehrt die Abwehr von erwachsenen „Besitzansprüchen“ und allem störrischen Begehren, das sich nicht damit begnügen will, frei und unschuldig zu flottieren.

Eric Voegelin: „Das Volk Gottes. Sektenbewegungen und der Geist der Moderne“. Wilhelm Fink Verlag 1994, 160 Seiten, 38DM

„Die Politischen Religionen“. Wilhelm Fink Verlag 1996, 85 Seiten, 28DM