■ Schlagloch
: Bewegung gegen den rasenden Stillstand Von Christiane Grefe

„Ich muß den Artikel 20 Grundgesetz einklagen!“

Peter Beier, evangelischer Präses, in „Talk im Turm“, 11.2.1996, Sat.1

Wann liest unsereine schon mal Madame? Neulich aber lag so ein exquisites Heft irgendwo herum, und seither weiß ich, daß selbst Hochglanzredaktionen mit Zuständigkeit für die in diesem Modesommer gebotene „neue Anmut“ an der neuen Armut nicht mehr vorbeikommen. Denn da erzählte die Kolumnistin Isabel Mühlfenzl von zwei „Chefsekretärinnen, die sich beim Italiener treffen – die eine „abgehetzt“, gleich nach Büroschluß, die andere blendend erholt, weil auf Stütze. Und „schau mich an, welchen Teint ich habe“, ließ sie die Arbeitslose schwärmen. „Ich führe täglich meinen Hund spazieren, ich gehe ins Fitneßstudio und fühle mich fabelhaft!“ Stempeln gehen als Schönheitskur – so sind sie, die Sozialschmarotzer. Oder zumindest würden doch, schränkt Frau Doktor Mühlfenzl den Wahrheitsgehalt ihrer Fabel schon selber ein, dergleichen Geschichten „in jeder deutschen Kneipe in vielen Variationen erzählt“.

Tatsächlich aber glaubt selbst die immer noch reiche Immer- noch-Mehrheit längst nicht mehr solchen demagogisch konstruierten und zynischen Appellen an Ressentiments, mit deren Hilfe sich das schlechte Gewissen gegenüber den Schwachen leichter ertragen ließe. Armut und soziale Not sind unübersehbar geworden; nicht nur in meiner Straße, wo neben den einzelnen, meist älteren Obdachlosen von früher jetzt jede Nacht sehr viel jüngere Männer und Frauen in den Schaufenstergalerien schlafen. Und entgegen all dem konservativen Geraune über Egoismus und angeblich flächendeckende Ehrenamtsmüdigkeit kommen die Leute auch aus den Puschen und werden aktiv – auch wenn sie vielleicht nicht mehr in Kirchen oder Parteien eintreten.

In Hamburg zum Beispiel hat sich letzte Woche, initiiert von der Obdachlosenzeitschrift Hinz & Kunzt, eine erstaunlich große Zahl von Individuen zusammengetan, um angesichts der wachsenden Arbeitslosigkeit und Verelendung direkt Verantwortung zu übernehmen: 1.400 Studenten, Lehrer, Hausfrauen und Kaufleute ließen sich innerhalb weniger Monate für ein „Spendenparlament“ einspannen. Jeder zahlt dabei einen nach oben offenen Jahresbeitrag, und über die Verteilung der Summen wird demokratisch abgestimmt. 300.000 Mark waren schon beisammen, noch ehe sich 650 der „Abgeordneten“ zum ersten Mal trafen. Und im Rathaus gleich die ersten Eilanträge beschieden: Gelder für Obdachlosen-, Frauen- und Behindertenprojekte, die sonst dem Sparzwang der Kommune zum Opfer gefallen wären.

Bei den auf- und abgeklärten Kritikern einer angeblichen political correctness gilt zwar so ein Engagement sicher wieder als kleinkarierter, linker Gutmenschen- Kitsch, und die altbequemen Linken selbst werden darin bloß das naive Symptombastelwerk barmherziger Mittelschichtsschwärmer erkennen. So daß, in bester Tradition des ideologischen Entweder- oder-Denkens, am Ende wie immer gar nichts geschähe: Was kümmert mich die Ratlosigkeit meiner alleinerziehenden Nachbarin, solange der unmenschliche Weltmarkt existiert? Und tatsächlich: Stabile neue Jobs werden die Spendenparlamentarier kaum schaffen oder erhalten und die Arbeit insgesamt auch nicht neu verteilen können. Allein auf kommunaler Ebene wird es ihnen auch nicht gelingen, das Verhältnis zwischen Marktwirtschaft, Staat und Gesellschaft neu zu definieren. Aber sie fangen doch damit an.

Denn die Hamburger „soziale Bewegung gegen Armut und Isolation“ geht über reine Hilfsbereitschaft weit hinaus. Wenn der Staat nicht umverteilt, signalisiert sie Politikern und Mittelstandslobbyisten – es sei denn systematisch von unten nach oben –, dann verteilen wir eben selber um. Wir zahlen gern. Vor allem aber schafft die Initiative auch mitten in der Stadt eine ganz neue, jedermann zugängliche Öffentlichkeit – die Politisierung der Caritas, bei der über Prioritäten, aber auch über die strukturellen Grenzen solcher Einzelfallhilfe gestritten werden wird.

Nicht nur die Hamburger demonstrieren solch „wachsendes Selbstbewußtsein einer zivilen Gesellschaft“, so die Süddeutsche Zeitung, „die sowohl der Politik als auch der Wirtschaft das Monopol auf Zukunft streitig macht“, und das auch nicht nur im sozialen Bereich: Engagierte Privatleute öffnen vielmehr, wie in Troisdorf, die Schule für die Aidshilfe, Ausländervereine, den Kanuklub und viele andere Institutionen – um die verschiedensten Milieus zusammenzubringen und die Entfremdung in den Kinderisolierstationen staatlicher Bildungspolitik aufzubrechen. Sie tun sich, wie in München, als Unterstützervereine zusammen: Sechs Privatleute finanzieren eine ABM-Stelle im Jugendzentrum. Bürger planen ihre Wohnviertel selber und integrieren dabei Alte und Kinder. Oder sie lassen sich, wie in Ahlen oder Witten, ihre Kulturzentren nicht wegnehmen und finden unkonventionelle Finanzierungsmodelle – gegen bürokratische Vorgaben.

Im ökologischen Bereich haben die kleinen, aber konstruktiven Schritte engagierter Bürger auch schon Druck von unten und Veränderungen oben erzeugt: Unabhängige Bürger bastelten das „Alternative Müllkonzept“. Und auch das neue Stromeinspeisungsgesetz, das alternativen Energien erstmals reale Entwicklungschancen eröffnete, wäre nicht entstanden ohne den praktischen Beweis, daß sich die Sonnen- und Windstromproduktion sehr wohl rentieren kann. Die Bürgergesellschaft, also die Verantwortung füreinander auch im Zeitalter der Mobilität und des Individualismus, treibt Blüten – auch wenn unter Journalisten bei so was wieder kein Schwein guckt.

Mich jedenfalls motiviert diese sich ausbreitende kommunale, kommunitaristische Vitalität, und sei es nur, weil auf höheren, leider mächtigeren Entscheidungsebenen der berühmte „rasende Stillstand“ (Paul Virilio) herrscht und politisches Grau: Die Bundesregierung beschränkt sich aufs Streichen, Sparen, Abbauen, ohne dabei auch nur irgendeine Zukunftsperspektive zu vermitteln. Und auch die SPD eiert mit ihren sozial und ökologisch verträglichen Energiesteuer- und Wirtschaftskonzepten blutleer statt tatkräftig herum. Um so größer der Skandal, daß Bund und Länder mit ihrer Sparpolitik die kreativen und bürgernahen Gemeindeaktivitäten auch noch systematisch aushungern: Aufbau Ost, Kindergartenplatzanspruch, Kürzung der Arbeitslosenhilfe, demnächst die Integration von Langzeitarbeitslosen – der Bund beschließt, doch die Kosten werden von den Gemeindekonten abgebucht. 162 Milliarden Mark hoch ist der Schuldenberg der Kommunen; ein Defizit von mindestens zwölf Milliarden wird dieses Jahr dazukommen. Den letzten beißen die Hunde.

P.S.: Artikel 20 Grundgesetz, nur zur Erinnerung, schreibt einen „demokratischen und sozialen Bundesstaat“ fest. Da steht also auch sozial – herzliche Grüße stellvertretend an die Herren Kohl, Schäuble, Waigel. Und noch etwas steht dort: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“

Christiane Grefe ist Redakteurin des Magazins der Süddeutschen Zeitung