Jane Osten

Die Berlinale hat gestern abend mit Ang Lees Verfilmung von Jane Austens Roman „Sinn und Sinnlichkeit“ eröffnet. Emma Thompson triumphiert als Hauptdarstellerin und Drehbuchautorin mit Gefühl und Verstand  ■ Von Jörg Lau

Den taiwanesischen Regisseur Ang Lee mit einem Stoff von Jane Austen zu beauftragen, ist nur auf den ersten Blick eine seltsame Idee. Lees Arbeit – hierzulande bekannt durch „Das Hochzeitsbankett“ und „Eat Drink Man Woman“ – kreist mit einer universell anrührenden Ironie um partikulare, kulturspezifische Formen der Familie in Auflösung, um künstliche neue Familien und außergewöhnliche, aber dennoch funktionierende Weisen der Objektwahl. Ganz wie die Romane von Jane Austen also. Und so hat man es hier mit einer traumwandlerisch sicheren Adaption von „Sense and Sensibility“ im konfuzianischen Geist zu tun: Jane Osten.

Und sogar mehr als das: Emma Thompson, die nicht nur die Hauptrolle spielt, sondern auch für das Drehbuch verantwortlich zeichnet, hat Jane Austens Roman mit ein paar kleinen Eingriffen entscheidend verbessert.

Man mag kaum glauben, daß dies Thompsons erstes Drehbuch ist. Sie hat einige Charaktere, die Austen vorsichtshalber doppelt vorkommen ließ, einfach weggelassen (Lady Middleton, neben Miß Jennings eine zweite Inkarnation der Selbstbezogenheit, flog kurzerhand raus). Margaret (Emilie François), die jüngste der Dashwood-Schwestern, die im Roman fast verschwindet, hier aber die wichtige Rolle bekommt, dem steifen Edward (Hugh Grant) beim Auftauen zu helfen – und ihn als Liebesobjekt für Elinor plausibler zu machen –, kann fast als Thompsons Erfindung gelten. Und welch wunderbare Idee, Marianne (Kate Winslet) und den attraktiven romantischen Schuft Willoughby (Greg Wise) sich bei der Lektüre von Shakespeares 116. Sonnett als vom gleichen, leicht entflammbaren Schlag erkennen zu lassen. Besser läßt sie sich nämlich nicht in Worte fassen, die Verliebtheit in eine Liebe, die mehr die Liebe liebt als den Geliebten: „Let me not to the marriage of true minds / Admit impediments. Love is not love / Which alters when it alteration finds, / Or bends with the remover to remove...“ Marianne ist mehr in diese romantisch-platonische Idee einer unwandelbaren Liebe verliebt – die sich von Veränderungen nicht verändern und auch von ihrem Vertreiber nicht vertreiben läßt – als in Willoughby, und es wird sie fast umbringen, das zu merken. Man muß das Buch zwar glücklicherweise nicht einmal kennen, um den Film zu schätzen. Wer aber den Roman gelesen hat, kommt in den Genuß eines doppelten Vergnügens, denn Ang Lees Literaturverfilmung ist zugleich dank Thompsons Gespür eine Kritik auf der Höhe ihres Gegenstands. Wie das?

Was diesen Stoff, dem deutschen Publikum besser bekannt unter dem Titel „Verstand und Gefühl“, zu interessantem Material für eine brillante Schauspielerin und kluge Autorin wie Emma Thompson macht, begründet nämlich zugleich seine Schwächen. Schwächen, die einem Leser nicht so leicht offenbar werden wie sie einem Kinogänger auffallen würden, hielte man sich sklavisch an die Vorlage.

Jane Austen interessiert sich so ausschließlich für den Konflikt der Dashwood-Schwestern Elinor (Thompson) und Marianne (Kate Winslet), den der Titel benennt, daß sie beinahe vergessen hat, den beiden Männern, die doch zumindest den Anlaß der dramatischen Entwicklungen abgeben sollen, ein wenig Anziehungskraft zu geben. Schließlich handelt es sich um eine Liebesgeschichte. Schließlich werden die beiden am Ende geheiratet, und wir sollen uns diese Verbindungen als glückliche vorstellen.

Austens Roman gibt zwar interessante Frauenrollen vor. Hier kreist alles um einen Moment, in dem für eine Frau größte Souveränität und größte Gefahr eins waren – um den Moment der Wahl eines Liebesobjekts. Austen war jedoch gegenüber den potentiellen Objekten, gegenüber den Männern in ihrem Roman, relativ indifferent. Thompson macht aus den schemenhaft bleibenden Charakteren Edward Ferrars und Colonel Brandon zwei wirkliche Personen der Handlung, so daß Grant und Rickman, beide treffsicher besetzt, zeigen dürfen, was sie können. Alan Rickman meistert als immer wieder schmählich abgewiesener Colonel flammenden Blicks die schwierige Aufgabe, unterdrücktes Verlangen darzustellen. Hugh Grant spielt seinen Edward unter Verzicht auf den bekannten Grübchencharme mit schon wieder elegant zu nennender Steifheit; man kann durch die Oberfläche seiner Linkischkeit hindurch sehen, daß er ein Geheimnis mit sich herumträgt. Es hat ihm nichts genutzt: Die amerikanische Kritik ist immer noch so sehr von dem peinlichen Ruhm fasziniert, der Grant wortwörtlich in den Schoß gefallen ist, daß seine unaufdringlich körperliche Schauspielkunst derzeit noch keine Gnade erwarten kann. Durchhalten!

Männer mögen in Austens Welt bewunderns- und begehrenswert erscheinen, und am Ende geht es natürlich auch darum, den Richtigen zu bekommen, aber das wunderbarste Geschöpf der Welt ist wohl doch eine unabhängige, intelligente junge Frau mit mindestens einem gewissen Grad physischer Ausstrahlung. Im Zentrum des Romans stehen, wie stets bei Austen, die Frauen, genauer gesagt die Beziehungen zwischen den Frauen, die hundert Mal ergreifender sind als alle Beziehungen, die sie je mit Männern haben werden. Das hat manchem männlichen Leser solche Panik eingeflößt, daß er seinem „geradezu animalischen Widerwillen“ (Mark Twain) gegen diese Welt glaubte Ausdruck geben zu müssen: Mädchenaffären zu Staatsgeschäften aufgeblasen! Während draußen die napoleonischen Kriege toben!

Aber triumphieren Sie nicht zu früh, meine Damen, interessanterweise kommen auch auf Ihrer Seite Abwehrreaktionen vor, wenn sie sich auch mehr auf die Tugendhaftigkeit der Heldin Elinor beziehen. Und in der Tat hat für unsere Zeit die Vorstellung etwas mehr als Befremdliches, daß man wie Elinor glauben kann, persönliches Glück zu erreichen, indem man „seine Pflicht tut“, den Anforderungen der Gesellschaft und der Familie nachkommt und die Selbstverwirklichung hintanstellt. Die offenbar verbreitete Annahme, Austens Roman lehre diese Moral, hat manche Kommentatoren in England und Amerika ins Grübeln gebracht: Was bedeutet es dann, daß seit letzten August fünf Verfilmungen von Austens Romanen herausgekommen sind – neben dem hier besprochenen Film laufen „Pride and Prejudice“ als BBC-Serie, „Persuasion“ wurde von Roger Michell verfilmt, und „Emma“ hat gleich zwei Bearbeitungen erfahren – als historisch getreuer Spielfilm unter der Regie von Doug McGrath und als zeitgenössische Adaption in „Clueless“ von Amy Heckerling. Ist das eine reaktionäre Rückkehr zu Klassikern, die moralische Sicherheit in Zeiten hyperindividualistischer Verwirrung versprechen?

Es mag sein, daß solche Wünsche die Leute umtreiben, aber bei Jane Austen (und bei Emma Thompson) wären sie damit jedenfalls an der falschen Adresse. Über nichts macht Austen sich mit größerer Schärfe lustig als über Menschen, die mithilfe von Ethos-Katalogen durchs Leben navigieren und ihre Mitwelt mit Standpauken und goldenen Worten erbauen. Keine ihrer Figuren läßt sie mit dem Gefühl entkommen, sie wüßte ein für alle Mal, wie man sich zu verhalten habe. Austens Thema ist moralische Komplexität, und Emma Thompsons kongeniale Adaption von „Sense and Sensibility“ läßt hoffen, daß genau darin das neu erwachte Interesse an ihrem Werk liegen könnte. Der Rest an der Austen-Hausse ist Zufall und die berechtigte Erwartung, daß bei Klassikerverfilmungen der Titel schon die halbe Miete bringt.

Die Liebe dient Austen als Medium, um die moralische Komplexität sichtbar zu machen. Es ist für ihre Romane charakteristisch, wie Lionel Trilling schrieb, „daß das archaische Ethos in ihnen in das Bewußtsein verliebt ist, das es zu zerstören sucht.“ Und so macht Marianne eine schmerzliche Wandlung durch. Von Willoughby verraten, wird sie sterbenskrank. Während sie, knapp dem Tod entronnen, immerhin hundert Jahre vor der Erfindung der Psychoanalyse erkennen muß, daß ihre Krankheit der Gipfelpunkt des Wütens gegen sich selbst, „ein Akt der Selbstzerstörung“ war, scheint Elinor in ihrer Zurückhaltung ganz und gar bestätigt zu werden. Ein Triumph des Common Sense über die Schwärmerei also?

Nur wenn man eine entscheidende Passage überliest, und das hat Emma Thompson nicht getan: „Es gibt in der englischen Literatur kaum eine bedeutungsvollere Szene als die, in der Marianne Dashwoods verwirrter Geist, der sich unbekannten Fluten und nie erträumten Gestaden ungehemmt hingeben möchte, gerechtfertigt wird durch die plötzliche Sympathie, die ihre pflichtbewußte Schwester Elinor dem zerrissenen Bewußtsein von Mariannes Liebhaber, dem glaubenlosen und destruktiven Willoughby entgegenbringt.“ (Lionel Trilling)

Diese Szene, in der Elinor im Roman die Grenze zwischen Gefühl und Verstand überschreitet, muß im Film zwar fehlen, denn sie ist ein rein inneres Geschehen, ganz und gar Psychologie. Aber Thompson spielt zum Ausgleich eine andere Szene aus, in der sie zeigen kann, daß Elinor von ihrem Besuch auf der anderen Seite der titelgebenden Differenz verändert zurückkommt: Als sie am Ende erfährt, daß Edward frei ist, als endlich die Hindernisse zwischen ihnen beseitigt sind, bricht sie unter einem großartigen, befreienden Schluchzen zusammen. Es dauert lange, so lange bis der Terror ihrer selbstauferlegten Moral ganz von der Freude verschluckt worden ist, wider alle Erwartung noch widerlegt worden zu sein.

„Sinn und Sinnlichkeit“. USA 1995, 135 Min, Regie: Ang Lee. Mit Emma Thompson, Kate Winslet, Hugh Grant, Alan Rickman, Greg Wise