Auf flimmernden Pisten

Todestrafe und Rachegefühle, Richard Nixon, eklatante Familienfeste, John Travolta und Bitter Lemmon: Heute abend wird die Berlinale '96 mit Ang Lees Jane-Austen-Verfilmung „Sense and Sensibility“ eröffnet  ■ Von Mariam Niroumand

Einstweilen ist die wohl lustigste Erscheinung der heute abend beginnenden Berlinale '96 eine vom Panorama herausgegebene Liste mit dem Titel „Films in a gay and lesbian context“. Auf dieser finden sich zu den einzelnen Filmtiteln Angaben wie „small lesbian subplot“ oder „men, sex“, „women“ oder gar „very small lesbian subplot“ – man sieht, die Segmentierung des Publikums in einzelne Interessensschwadronen vollzieht den Weg der Politik draußen im wirklichen Leben nach, wo die Tage der großen Volksparteien ja auch gezählt und denen der Pressure-groups gewichen sind (siehe unser Gespräch mit Panoramaleiter Wieland Speck auf den Berlinaleseiten).

Der Wettbewerb leistet sich keinen solchen Partikularismus und besteht eher auf den großen Fragen – ohne dabei allerdings ins Metaphysische hinüberzugleiten: Tim Robbins' „Dead Man Walking“ basiert auf dem Bericht einer amerikanischen Nonne, die einen Hinrichtungskandidaten in seinen letzten Tagen und vor allem Stunden begleitet. Robbins, dem als Schauspieler seine Lebensgefährtin Susan Sarandon und Madonnas Ex Sean Penn zur Seite standen, hat sich glücklicherweise nicht dazu hinreißen lassen, ein Pamphlet zu verfilmen. Es dreht sich mehr darum, die Anstrengung sichtbar zu machen, die es eine Gesellschaft kostet, Rachegefühle nicht Gesetz werden zu lassen – man entscheidet hier nämlich nicht aus so ephemeren Impulsen wie Sympathie; Penn bietet dazu, als white trash mit Schmackofrisur und Bemerkungen aus dem Gefrierschrank des ländlichen Faschismus, zunächst nicht den geringsten Anlaß. Die Eltern des Teenagerpaares, das er gemeinsam mit einem „Freund“ erschlagen und vergewaltigt hat, bestehen darauf, der Hinrichtung beizuwohnen. Als es vorbei ist, sieht man auf ihren Gesichtern, daß man vom Alten Testament eben nicht leben kann: Die Gleichung Aug' um Aug' hat zum Schluß nur elende Leere ergeben ...

Richard Loncraine hat Shakespeares „Richard III“ in die dreißiger Jahre versetzt, zur britischen Hitler-Stalin-Variante konvertiert – solchermaßen andeutend, es hätte überall passieren können, wäre nur die richtige Figur aufgetaucht. Ist es aber nicht. Sei's drum, jedenfalls hat Ian McKellen, ein routinierter britischer Bühnen- Shakespeare-Darsteller – der übrigens auch das Drehbuch schrieb – alles, was es so braucht: einen kleinen Schnäuzer, Hinkebein, Schweißausbrüche und nachts die Alpträume, aus denen ihn ein Getreuer wie eine Mama herausschunkeln muß. Es werden auch jede Menge Tanker und Tornados vorgeschickt, falls irgend jemandem die Dramatik der Lage entgangen sein sollte.

Jodie Fosters Film „Home for the Holidays“ hat über die Familie nicht allzuviel Gutes zu sagen, außer vielleicht, daß man sich in diesem Zusammenhang ja schließlich nicht lieben muß ...

Gibt's denn auch irgendwas Lustiges? Ja! In „Get Shorty“ kann Hollywood, souverän sich über den Bauch streichend, erzählen, wie charmante Mafiosi inzwischen das Filmgeschäft majorisieren. (Woody Allens „Cheech“ war erst der Anfang). John Travolta als Chili weiß eine Zigarette zu halten und auch ein frischrasiertes Kinn, und daß ein Koffer mit 300.000 Dollar im Schließfach lagert, verhilft der Sache zur nötigen Relevanz.

Geheimnisvoll und unwägbar sind hingegen die Wege des Forums, glücklicherweise nicht immer der eigenen Maxime folgend („Das Internationale Forum der Berliner Festspiele sucht aus der Weltfilmproduktion jene Werke herauszufiltern, die uns herausfordern, neue Horizonte suchen, die Filmsprache bereichern oder unserer Zivilisation einen Spiegel vorhalten“). Sehr viel unangestrengter entwickelt zum Beispiel „The Gate of Heavenly Peace“ von Richard Gordon und Carma Hinton eine bislang für den Normalo relativ unbekannte Geschichte der Ereignisse auf dem Tiananmen-Platz 1989, bei der die Differenzen unter den Studenten sichtbar werden. Man sieht plötzlich, wie die seltsame Paralyse angesichts der Panzer mit der (Unter-)Entwicklung des Individualismus und dementsprechend auch des Demokratiegehäuses in China zusammenhängt: Chai Ling, die sich unentwegt weinend als Oberkommandierende des Aufstands bezeichnete, gesteht zum Ende ihres Interviews mit einem amerikanischen Journalisten, sie habe den Leuten nicht verständlich machen können, daß man es regelrecht auf ein Blutvergießen anlege ... Das alte Credo der RAF kommt hier wieder zum Vorschein: Erst wenn völlige Verelendung eingetreten ist, werden die Menschen sich wehren.

Mit „Die Geschichte vom Onkel Willy aus Golzow“ setzen Barbara und Winfried Junge ihre Langzeit-Ethnografie des Beitrittsgebiets fort, die sie 1961 (!) mit „Die Kinder von Golzow“ begonnen haben. Auch wenn mitunter zuviel warme Emphase für das einfache und schlecht behandelte Ostlerleben die Sicht verbaut („Du, wie jeht's 'n dir mit den janzen Neuerungen und so?“), sammelt sich doch genug Material an, um die Sache interessant zu machen. Andres Veiel wiederum, der vor zwei Jahren mit „Balagan“, einem Beitrag über das israelische Stück „Arbeit macht frei“ und dessen Protagonisten, einige Debatten auslöste, ist nun mit „Die Überlebenden“ nach Hause vorgerückt, zurück zu seiner schwäbischen Schulklasse, auf deren Klassenfoto drei Leute fehlen, weil sie sich umgebracht haben.

Zu Silvester haben manche Leute ja nichts weiter getan, als „Roman Holiday“ mit Audrey Hepburn auf Video zu gucken und leckere Dinge zu essen, und genau solche Leute wird es freuen, in eine William-Wyler-Retrospektive zu gehen. Der Regisseur von „The Little Foxes“ oder „The Best Years of Our Lives“ war, wie unser Autor Lars Penning auf den Berlinaleseiten dieser Ausgabe schreibt, mit den „psychologischen Geschichten vor sozialem Hintergrund“ bei Bazin und Co in Ungnade gefallen und nicht wieder aufgestanden. Jetzt, wo Filme wie „How to Make an American Quilt“ oder „Casino“ gemacht werden, man also allenthalben wieder Charaktere hinter den Masken hervortreten sieht, widmet ihm die Berlinale eine Retro, die auch vor den frühesten Stummfilm-Western nicht zurückschreckt. Es muß ja nicht unbedingt ein Passionsspiel wie „Ben Hur“ sein.

Elia Kazan, der wohl vor allem durch die eher anstrengenden Steinbeck-Verfilmungen und entsetzlichen James-Dean-Vehikel bekannt ist, erhält einen Goldenen Bären für sein Lebenswerk und wird, wenn alles gutgeht, auch nach Berlin kommen. Lars Penning beschreibt Kazans Verhältnis zum Ausschuß für Unamerikanische Umtriebe und was der Film „On the Waterfront“ damit zu tun hat. Die dritte Retrospektive schließlich, die für Jack Lemmon, wird Ihnen Harald Fricke auf den Berlinaleseiten von morgen nahelegen. Titel: Bitter Lemmon.

Der Jury sitzt in diesem Jahr der russische Regisseur Nikita Michalkov vor. Daneben gehören ihr unter anderem die amerikanische Schauspielerin Joan Chen an, die Schriftstellerin Fay Weldon, Jürgen Prochnow und Peter Lilienthal, die israelische Regisseurin Gila Almagor und Ann Hui, Produzentin aus Hongkong.

Mit Ang Lees Jane-Austen- Verfilmung „Sense and Sensibility“ wird die Berlinale '96 heute abend eröffnet. Die Rezension von Jörg Lau finden Sie heute in der täglich erscheinenden vierseitigen Berlinale-Beilage, die der Berliner Ausgabe beiliegt, und von der ab morgen jeweils eine Seite auch überregional erscheint. Mariam Niroumand