Geborgte Authentizität

In die schönsten Szenen platzt die Bedenklichkeit: Michael Verhoevens „Mutters Courage“ nach Tabori (Wettbewerb, außer Konkurrenz)  ■ Von Petra Kohse

Wie können Sie ein Stück über die Judenvernichtung als Revue inszenieren“, soll irgendjemand Peter Zadek gefragt haben, als er 1984 in Berlin Joshua Sobols „Ghetto“ probierte. „Ich als Jude kann das“, ist die überlieferte Antwort. Aggressive Leichtigkeit mag die eine Möglichkeit sein, um Geschichte vor der Betroffenheit zu retten. Eine andere ist der Witz – für George Tabori der Inbegriff einer „Demonstration der Dialektik“. In seinem Stück „Kannibalen“ (1986) läßt Tabori KZ-Häftlinge einen Mitgefangenen zum Abendessen verspeisen, und „Mein Kampf“ (1987) zeigt den jungen Hitler in einem Wiener Männerasyl in den 20er Jahren, wo ihm von seinem Bettnachbarn Schlomo Herzl der Bart gestutzt wird. Das Hitlerbärtchen – eine jüdische Erfindung!

Ein anderes Stück von George Tabori beruht auf den Erlebnissen seiner Mutter Elsa: „Mutters Courage“. Tabori hat das Thema auch in einer Erzählung verarbeitet und die szenische Fassung 1979 in München selbst urinszeniert. Jetzt ist der Stoff zur Grundlage eines Films von Michael Verhoeven („Die weiße Rose“, „Das schreckliche Mädchen“) geworden. Verhoeven ist im Gegensatz zu Zadek und Tabori kein Jude, und weil „Mutters Courage“ vom Holocaust handelt und doch mit viel Witz einen glücklichen Einzelfall erzählt, hat er den Autor und Sohn vorsichtshalber als Erzählerfigur mit in den Film hineingenommen.

„Damit wollte ich von Anfang an klarmachen: Hier findet kein Leiden von Opfern statt, hier findet Kino statt“, sagt der 58jährige Regisseur. „Ich versuche, mich dem Leiden und den Opfern nur soweit anzunähern, wie es mir der Respekt vor den Opfern erlaubt. Ich fühle mich berechtigt – durch George Tabori berechtigt – seine ironisch-skeptische Sicht, die auch Teil meiner Produktionsweise ist, als verbindlich anzusehen. Diese Art von Ironie zielt nicht auf die Wirklichkeit, sondern auf Distanz dazu.“

Diesen bedenkenträgerischen Gestus trägt leider auch Verhoevens Film zur Schau – und zwar immer dann, wenn dieser im Begriff ist, ein wirklich guter Film zu werden. So muß Tabori – nichts gegen Tabori, man sieht ihn immer und überall gern – anfangs bei den Dreharbeiten gezeigt werden, im dramaturgisch entscheidenden Moment am Feldrand stehen und am Ende auch noch auf dem heutigen Berliner Hauptbahnhof herumsitzen, die Kladde seiner Mutter in der Hand. Soviel Authentizität war nie.

Budapest, 1944. Elsa Tabori, eine ältere jüdische Dame, macht sich auf den Weg zu ihrer Schwester, um dort eine Partie Rommé zu spielen. Auf der Straße wird sie von zwei aus dem Ruhestand zurückgeholten Polizisten festgenommen und in eine überfüllte Straßenbahn geschoben. „Warten Sie an der nächsten Station“, rufen sie ihr nach, weil sie selbst zurückbleiben müssen. Und Elsa Tabori steigt an der nächsten Station tatsächlich wieder aus und wartet auf die keuchend heraneilenden Polizisten, die sie zur Sammelstelle für die Deportation bringen.

In Viehwaggons geht es zunächst zu einem Zwischenlager, und von dort werden an diesem Tag 3.999 Budapester Juden nach Auschwitz gebracht. Elsa Tabori indessen kehrt im Zug der deutschen Nazis nach Hause zurück. Ein SS-Offizier hat Schicksal gespielt, hat vor seinen Untergebenen den Allmächtigen markiert. „Gott steckt im Zufall“, sagt George Tabori. 1944 war er 30 Jahre alt und arbeitete in London als Journalist.

Ulrich Tukur, der schon in Zadeks „Ghetto“-Inszenierung einen SS-Mann spielte, ist auch bei Verhoeven der deutsche Offizier. Ein blonder Schöngeist. Wacklige Videoaufnahmen zeigen ihn zu Beginn des Films vor einem unsichtbaren Entnazifizierungsgremium, im Anzug, rauchend. „Ich kann mich nicht mehr erinnern“, sagt er gereizt. „Es ist zu lange her – Gott!“ Dann kommt Tabori ins Bild, lächelt freundlich und nimmt den Hut ab. Das ist ein schlichter und gelungener Anfang. Doch bald darauf beginnt schon der erste Teil von Taboris Erzählereinlagen.

„Das hier ist meine Mutter. Sie hatte unvergleichlich blaue Augen“, sagt er und hält ein Foto hoch. Es ist natürlich schwarzweiß, man kann nichts erkennen, aber Pauline Collins, die Elsa-Darstellerin, sieht dann genau so aus, wie man sich Frau Tabori vorstellt. Drall und sanft, ein sehr spätes Mädchen und doch mütterlich. Vielleicht etwas zu mütterlich. So untouchable mütterlich, daß Verhoeven eine wichtige Begebenheit in Taboris Geschichte glatt unterschlägt. Im Zug zum Sammellager schieben sich nämlich zwei Hände unter ihr Kleid. Sie läßt den Unbekannten – „Es könnte das letzte Mal sein“ – gewähren. Der Film- Elsa wird statt dessen ein nichtjüdisches Mädchen zur Seite gestellt, das bei seiner jüdischen Freundin zu Besuch war, als die Nazis kamen. Elsa Tabori, die sich im Zwischenlager mutig an den Offizier wendet, rettet hier auch sie.

Diese Szene ist im Film übrigens wunderbar. Collins, die im gleißenden Sonnenlicht wacklig und würdevoll einen riesigen Hof überquert, um dem Offizier mit dem Mut lebenslanger Lauterkeit etwas von einem Schutzpaß zu erzählen. Ein Showdown unter johlendem Gelächter der ungarischen Nazis, über das sich der Deutsche durch seine „Gnade“ erhebt. Das ist kein bißchen kitschig, wie sich Verhoeven filmisch überhaupt nur durch gelegentliche weichgezeichnete Erinnerungsblenden aus dem Leben der Elsa Tabori vertut. Die Handlung hingegen rollt er im schönsten Stilmischmasch ruhig und überzeugend ab.

Slapstick bei der Verhaftung, Oper im Sammelbahnhof. Einer hält einen Globus in der Hand, ein anderer noch ein Fleischermesser. Auf- und Untersichten, Detailaufnahmen. Im Hintergrund Tukur, lesend oder Musik hörend, voller pseudoaristokratischer Genervtheit von all dem Gebrüll, mit einem Hauch von Melancholie, ehrgeizig aus Berechnung, nicht aus Leidenschaft. Eine Ärztegruppe, die bereits in Budapest eine „Vorselektion“ vornimmt, hat Verhoeven aus den Weimarer Bildern von George Grosz genommen: Monokelbestückte Vierkantschädel über fetten Wänsten, und im plüschigen Sonderzug lümmeln Hängebusige im Seidenen am Billardtisch.

Wenn dieser Regisseur nur nicht soviel Angst vor Mutters Courage hätte, die die Courage und die Rettung einer einzelnen ist. Ganz allein steht Pauline Collins als Elsa Tabori 1944 in Budapest wieder auf dem Bahnhof. Und dann läßt Verhoeven sie mit ihrem Judenstern über den heutigen Kurfürstendamm zum Hause ihrer Schwester laufen – Antifa-vollkompatibel und pädagogisch wertvoll, und den Bayerischen Filmpreis hat es auch schon gebracht. Es ist nicht das Schlußbild, aber es bleibt als solches im Gedächtnis. Die letzten Worte bei Tabori indessen lauten: „Sie spielten einige Stunden lang Rommé. Um Mitternacht, als sie eine Pause machten und einen kalten Imbiß mit Tee zu sich nahmen, hatte meine Mutter zwei Pengö fünfunddreißig gewonnen, sie hatte allen Grund, zufrieden zu sein.“

„Mutters Courage“, BRD/GB, 92 Min., Regie: Michael Verhoeven.

Heute, 22.45 Uhr im Zoopalast, Wh.: Morgen, 15 Uhr im Royalpalast, 20 Uhr im International und 23.45 Uhr in der Urania