Handy-Nutzer wider Willen

Trotz Telekom-Versprechen warten in Berlin noch Zehntausende auf einen Telefonanschluß. Die Mobilfunk-Branche freut sich zu früh  ■ Von Ralph Bollmann

Christoph Duwe geht mit seinem Handy um, wie die Benimmberaterin es wünscht. Er telefoniert weder in der U-Bahn noch im Restaurant, weder im Hörsaal noch in der Mensa. Am liebsten benutzt er das Gerät zu Hause. Eigentlich handelt es sich auch gar nicht um ein Handy, sondern um ein Funktelefon. Die Technik ist zwar die gleiche, die Funktion aber grundverschieden: Wird ein Handy zumeist als Statussymbol benutzt, so entspringt der Griff zum Funktelefon bitterer Notwendigkeit. Obwohl die Telekom bereits für das vergangene Jahr einen Anschluß zugesagt hatte, ist seine Altbauwohnung an die Drähte des Monopolisten noch immer nicht angeschlossen.

Wie Duwe warten noch Zehntausende Berliner auf ihren Telefonanschluß, obwohl die Telekom zunächst versprochen hatte, die Hauptstadt bis Ende 1995 vollständig anzuschließen. „Die Ihnen für dieses Jahr in Aussicht gestellte Bereitstellung des Telefonanschlusses muß leider verschoben werden“, hieß es dann aber in einem Schreiben, das die Fernmeldeämter im November verschickten, „der neue Termin liegt nunmehr im ersten Halbjahr 1996“.

Wie viele Aufträge noch unbearbeitet sind, will der Berliner Telekom-Sprecher Bernhard Krüger aus Rücksicht auf das angekratzte Image seines Unternehmens nicht sagen. Die im Herbst genannte Zahl von 77.000 Wartenden sei aber inzwischen „überholt“. In ganz Ostdeutschland stehen noch über eine Million potentieller Kunden auf der Warteliste, gibt sich Jürgen Hoffmann von der Generaldirektion in Bonn auskunftsfreudiger. Bis Ende 1997 sollen sie angeschlossen sein.

Der Mangel an Drähten, die den Anschluß an die Welt bedeuten, belebt das Geschäft des mobilen Telefonierens. „Wir haben einen hohen Anteil von Kunden, die normalerweise ins Festnetz gegangen wären“, freut sich „E-plus“- Sprecher Dietrich Gemmel. Das Düsseldorfer Unternehmen hat von Anfang an auf diesen „Festnetz-Substitutionseffekt“ gesetzt und seine Sendestationen seit 1993 zunächst in Berlin und dann in den übrigen Ost-Ländern aufgebaut. „Bei der Lizenzerteilung war klar, daß es in den neuen Ländern in Sachen Festnetz auf absehbare Zeit Nachholbedarf gibt“, sagt Dietrich Gemmel.

„Wir bieten die nächstgünstigere Möglichkeit, Telefonkunde zu werden.“ Obwohl „E-plus“ jetzt auch den Westen erschließt, stammt noch immer fast die Hälfte der Neukunden aus dem Osten.

Die Marktführer Mannesmann und DeTeMobil, eine Telekom- Tochter, nennen dagegen keine Zahlen über die Entwicklung im Osten. „Wir können nicht nachvollziehen, wer mit welcher Karte wo telefoniert“, meint Thomas Bechinie von der Berliner DeTeMobil-Niederlassung.

Die Annahme, der Abschluß des Festnetz-Ausbaus könnte das Handy-Geschäft einknicken lassen, weisen alle Netzbetreiber weit von sich. „Diejenigen, die sich einmal daran gewöhnt haben, werden sich überlegen, ob sie auf den Mobilitätsfaktor verzichten“, hofft Gemmel.

Die Vertragsgeschäfte vor Ort machen andere Erfahrungen. „Viele Leute, die einen Festanschluß bekommen, melden ihre Handies wieder ab“, sagt eine Pankower Mobilfunk-Händlerin, die sich damit aber nicht namentlich zitiert sehen will. Noch immer ist das Handy sehr viel teurer. Wer es ständig an den Qualitäten eines Festanschlusses mißt, wird sich von seinen Vorzügen kaum überzeugen lassen.

„Im Zimmer war der Empfang nicht der beste“, klagt der Student Andreas Biesenthal. Wenn er sich in der Plattenbauwohnung seines Studentenheims anrufen ließ, brach die Verbindung häufig ab. Er selbst telefonierte ohnehin selten, „das war mir absolut zu teuer“. Als sich die Telekom Anfang Dezember durch eine Unterschriftensammlung überzeugen ließ, im Wohnheim Anschlüsse zu installieren, meldete er das Mobiltelefon sogleich ab.

„Nur ein Handy zu besitzen hat etwas Provisorisches“, meint auch Wolfgang Kaschuba, der an der Humboldt-Universität ostdeutsche Alltagskultur erforscht. Wenn ihm Mitarbeiter oder Studenten ihre Funk-Nummer hinterlassen, fügen sie entschuldigend hinzu, sie wohnten im Osten und hätten daher keinen Festanschluß. Das Unbehagen gegenüber der mobilen Kommunikation ist für ihn Bestandteil der Ost-Identität. „Dem Handy haftet doch der sogenannte Westgeruch an“, meint er, „so etwas tut man nicht.“

Ulrich Lange dagegen, Telefonforscher an der Freien Universität, kann in der Einstellung zum Handy keinen Unterschied zwischen Ost und West ausmachen. Wie Kaschuba glaubt er aber, daß die Nutzung als bloßer Festnetz- Ersatz den Funktelefonen ein Stück Exklusivität nimmt. Wenn sie aber kein „kaufbares Privileg“ mehr darstellten, müßten die Netzbetreiber entweder die Preise stark senken oder mit einer Kündigungswelle rechnen.

„Keiner gibt offen zu, daß rote Zahlen geschrieben werden“, beschreibt Lange die Nöte der Netzbetreiber, die sich in dieser Lage um Benimmregeln nicht scheren. Deren Vertriebsstrategie mit langfristigen Verträgen und unseriöser Preisgestaltung ähnele „den Drückermethoden bei den Publikumszeitschriften“.